50km Rodgau – Erbarmen die Hesse komme

31. Januar 2016von Christian Meise0

Rodgau ist nicht nur die Heimat der Monotones, sondern auch Stätte des größten deutschen Laufs über die Randgruppen-Distanz:

An diesem Samstag morgen Ende Januar gehe ich zum insgesamt 5.Mal hier an den Start. 50km sind eine seltener gelaufene Distanz, über die der DUV aber immerhin Deutsche Meisterschaften veranstaltet. Die Deutschen Rekorde stehen aktuell bei 2:52:13 Stunden (Peter Seifert) und 3:16:47 Stunden (Maria Bak). Manchmal vergisst man, dass 50km auch eine olympische Distanz sind – im Gehen halt.

2000 fand in Rodgau die Premiere mit 68 Startern statt und es war sofort ein winterlicher Lauf im tiefsten Schneesturm. Die Veranstaltung wurde sehr schnell populär und so stehen 2016 bemerkenswerte 958 Figuren an der Startlinie. Der Termin Ende Januar bringt natürlich das Risiko mit sich, dass man zum Start der Vorbereitung nicht weiß, ob es ein Winterlauf oder eine Bestzeitenveranstaltung wird. Speziell 2013 war bei mir ein Debakel der Extraklasse: In diesem Jahr verdiente sich der Winter seinen Namen auch redlich. Da die 50km in der Freizeitanlage Gänsbrüh in Form von 10 Runden zu je 5km gelaufen werden und sich die Temperaturen knapp über 0°C befanden, war der Untergrund zwar schneebedeckt, jedoch fest und somit gut zu laufen.

Am Anfang jedenfalls. Nach 2 Stunden verwandelte sich das Ganze jedoch immer mehr in eine schwer zu ertragende Mischung aus Schneematsch und Schlamm. Nach 25km konvergierte meine Pace von anfangs 5 min/km immer mehr in Richtung 7 min/km und so beschloss ich in der 6.Runde, mir nach 30km die Blöße eines DNF zu geben. Schnauze voll – fertig!

An eine Begebenheit im Jahr 2012 kann ich mich noch gut erinnern: Mein Ansinnen war es, Iron-Helmut und / oder den großen Seifi zur Teilnahme zu bewegen. Also fing ich an, über Rodgau zu erzählen und zu schwärmen, wie toll und engagiert diese Veranstaltung ist. Außerdem gab ich die Story meiner ersten Teilnahme zum Besten, als ich 2011 nach 5:20 Stunden nach ganz hartem Kampf völlig fertig aber überglücklich ins Ziel getorkelt bin.

Als ich am Ende meiner Erzählungen war, stellte ich fest, dass der Raum, in dem ich mich befand, leer war. Die waren abgehauen! Weg! Einfach weg! Ich hatte mich mindestens für 10 Minuten nur noch mit Büromöbeln unterhalten. 2013 passierte Ähnliches. Seit 2014 rede ich nicht mehr über 50km-Läufe! Ich registriere auch bei im Vergleich zu mir deutlich besseren Marathon-Läufern merkwürdige Verhaltensweisen bei der Ankündigung eines 50km-Laufs: Fluchtreflexe, Alternativterminüberflutung oder ganz plötzliche Spontan-Arthrose.

Ich kann aber aus eigener Erfahrung sagen, dass die Erde keine Scheibe mit einem Durchmesser von

ist und man danach in die Hölle fällt – es geht dahinter tatsächlich ganz normal weiter. Auch die Garmin-Uhr fährt dann nicht automatisch runter oder hängt sich auf. Man kann (ganz in echt!) die restlichen 7,8km weiter laufen – es braucht dafür keine Updates für die Uhr oder ähnliches Gedöns.

Der 50er in Rodgau hat definitiv internationales Flair – Grund dafür sind die guten Beziehungen zur Nationalmannschaft der Ukraine. In den vergangenen Jahren waren von dort immer wieder Topläufer mit Bestzeiten um 3 Stunden am Start. Und das bei einer Veranstaltung ohne Preisgeld! Bei vielen Volksläufen erkennt man Rodgau-Absolventen an den äußerst sinnvollen Accessoires, die es hier immer gibt:

Nach dem für mich enttäuschenden Frankfurt-Marathon 2015 habe ich inzwischen wieder meine Motivation für das Olympiajahr 2016 reaktivieren können. Immerhin kann ich ja behaupten, an dem Rennen teilgenommen zu haben, in dem

Gabius nach gefühlt einem halben Jahrhundert den Deutschen Marathon-Rekord auf 2:08:33 Stunden gedrückt hat. Was könnte der wohl über 50km bringen? Ich schätze mal, 2:45 Stunden wären drin – der WR bei den Männern steht übrigens bei 2:43:38 Stunden (Thompson Magawana).

Meine Bestzeit sind seit dem Lauf 2014 in Eschollbrücken 4:28 Stunden – heute leider völlig utopisch. Das „Training“ der vergangenen Zeit bestand im Durchschnitt aus 30-35km pro Woche. Davon grob geschätzt 30-35km bei dem EINEN langen Lauf, der am Samstag oder Sonntag noch möglich war.

Mein eigentliches Ziel zum Jahresanfang ist der 43km lange Thüringer-Skilanglauf-Marathon Ende Februar auf dem Rennsteig. Leider sieht das Ende Januar ja ziemlich bescheiden aus mit Schnee… Als kleiner Bub ist mein Vater im Winter sehr oft mit mir am Sonntag morgen auf den Hohen Meißner zum Skilanglauf gefahren – schön war das! Seitdem ich nun die Marathons laufe, geistern mir immer öfter Events wie der 50km-Skilanglauf in Oslo oder der Wasa-Lauf durch den Kopf. Wie fühlt sich eine solche Ausdauer-Leistung im Winter an? Fragen über Fragen.

Rodgau hatte ich mal als allgemeine Ausdauereinheit für den Skilanglauf vorgesehen und deshalb die sehr moderaten 25€ Startgeld in diese wirklich empfehlenswerte Veranstaltung investiert. Ich stehe hier am Start mit dem bescheidenen Ziel, zumindestens ohne Gehpausen durchzukommen – ich orientiere mich mal an den 5 Stunden.

Paff – los geht’s! Ich habe mich in einem Akt gnadenlos realistischer Selbsteinschätzung ziemlich weit hinten im Feld aufgestellt und jogge mal im Touristentempo ganz langsam los. Ich fühle mich zu diesem Zeitpunkt weder wach, noch fit, noch als Bestandteil einer „stadionfernen“ Laufveranstaltung (wie es der DLV formulieren würde).

Die 5km-Runde hier in Rodgau setzt sich zusammen aus 2km Teerweg und 3km befestigtem Waldweg und wird im Uhrzeigersinn gelaufen. Dies war angeblich in den ersten Jahren der Veranstaltung genau umgekehrt. Wirkliche Steigungen sind auf der Runde nicht vorhanden. Was für ein Glück!

Recht knifflig zu laufen sind eine Spitzkehre bei 0,5km und eine Wendepunktstrecke bei 2,5km. Aber insgesamt ein leicht zu bewältigender Kurs. Die äußerst liebevoll organisierte Verpflegung wird bei 0,8km angeboten: Neben den branchenüblichen Getränken gibt es eine große Auswahl an Nahrungselementen (Affenwurst, Salzgebäck, Kuchen, Kekse). Ja – dafür lohnt sich die Teilnahme!

Nach 2,5km biege ich (noch im Halbschlaf) auf diese Wendepunktstrecke und wenn ich ehrlich bin, habe ich an dieser Stelle jedes Mal Angst, dass ich mit einem entgegen kommenden Läufer (m/w) zusammenpralle. Ich glaube, für einen Bodycheck gibt es schon Mal 2 Minuten Zeitstrafe (jedenfalls beim Eishockey). Deswegen laufe ich, wenn möglich, auch ganz links – das ist natürlich nicht ganz einfach, wenn man spätestens in Runde 3 von den ehrgeizigen High Potential Läufern überholt wird.

In Runde 2 bin ich dann halbwegs wach und erkenne vor mir einen guten Bekannten. Es ist Jochen, der sich auf seinen ersten Marathon vorbereitet und deshalb hier in Rodgau 30km mitläuft. Genau das ist einer der großen Vorteile des Laufs und auch der Grund für die hohe Teilnehmerzahlen: Man kann den Wettkampf für lange Trainingseinheiten unter Wettkampfbedingungen nutzen und wird trotzdem in die Ergebnislisten aufgenommen.

Wir beschließen spontan, bis 30km gemeinsam zu laufen und dabei das Ziel sub 3 Stunden zu verfolgen. Das gibt die Gelegenheit, sich noch 2 Stunden über Gott und die Welt zu unterhalten und macht die lange Distanz deutlich erträglicher. Insgesamt muss man sagen, dass Rodgau irgendwie der kommunikativste aller Langstreckenläufe ist. Man hat das Gefühl, eine recht hohe Anzahl an Gesprächskreisen zu überholen, bzw. überholt zu werden. Letzteres ist natürlich deutlich bitterer. Unser Gesprächskreis erhält definitiv die Überschrift „Erster Marathon“.

Nach 30km in 2:55 Stunden steigt Jochen aus und verabschiedet sich. Als ich mit ein paar Metern Rückstand auf die Ziellinie zulaufe, erkenne ich verblüfft, dass man das Zielband aufspannen will. Huch – habe ich mich bei den Runden verzählt? Habe ich gewonnen? Als ich geistig schon den Text für die Siegerehrung und die Talkshows entwerfe, erkenne ich, dass hinter mir der Sieger bei den Herren in Richtung Ziel fliegt: Es ist Benedikt Hoffmann, der mit 2:57:26 Stunden einen für mich eigentlich nicht erwartbaren Streckenrekord aufstellt – die alte Bestmarke 2:58:43 Stunden und damit auch die erste Zeit sub 3 Stunden hatte Florian Neuschwander erst 2014 hier erreicht. Respekt!

Aber ist es nicht irgendwie bitter, dass Jemand 10 Runden laufen kann, während ich erst 6 Runden geschafft habe? Dass also dieser Jemand 20km Vorsprung vor mir hat? Ich also 20km Rückstand auf ihn? Nein – das darf nicht sein und deshalb lege ich spontan eine Schippe drauf, lasse mich vor der Ziellinie nicht überholen und deshalb sind es nur 19,95km.

Nach diesem kleinen, aber nicht unwichtigen moralischen Sieg muss ich alleine weiter. In dieser 7.Runde kann ich noch ganz gut das bisherige Tempo halten, merke aber schon, dass es langsam schwerer wird. Die kurze Gerade vor der VP nutze ich seit Runde 4, um mir das unbedingt nötige Gel reinzuwürgen.

So langsam wird es auch einsamer auf der Strecke: Während man in den ersten Runden das Gefühl hatte, die Strecke ist voll besetzt, hat sich das Feld mittlerweile auf die kompletten 5km entzerrt. Außerdem sind nun die Ersten im Ziel und Viele steigen nach selbstgewählten Teilstrecken aus. Zu Alledem kommt nun pünktlich, wie vorhergesagt, der standesgemäße Regen. Schööööön!

Nach 35km ist mein Esprit in Richtung Tempo halten endgültig aufgebraucht und ich schalte in das Programm „Platzerhaltungslauf“ um. Es geht jetzt nur noch darum, den Niedergang zu verwalten. Aber gehen ist überhaupt nicht drin! Das will ich mit aller Macht verhindern.

An der Wendepunktstrecke bei 2,5km läuft die ganze Zeit laute Musik. Das findet man meistens 3 Stunden gut, aber dann kann man „Keep on Running“ von der Spencer Davis Group nicht mehr ertragen. Wenn man zu diesem Zeitpunkt noch Power hat, motiviert es wahrscheinlich ungemein. Kann ich heute nicht beurteilen.

Runde 8 war verdammt hart. Jetzt noch 2 weitere Runden? Oh Mann – eigentlich kann ich nicht mehr. Aber aufgeben ist nicht drin – also umschalten in den Rennsteig-Modus. In Runde 9 hat man dann seine 42,195km geschafft und das kleine, unauffällige „Marathon“-Schild bekommt nun seine Bedeutung. Wenn ich in meinem aufkommenden Delirium richtig hingeschaut habe, bin ich da nach 4:07 Stunden vorbeigeschlichen.

Nach der Wendepunktstrecke bei 43km laufe ich jetzt zum 9.Mal auf diese Freifläche zwischen den beiden Waldstücken. Dort wütet mittlerweile ein Wind – das ist nicht mehr feierlich! Ich bin heilfroh, dass nach 44km wieder der Wald beginnt.

Beim letzten Zieldurchlauf nach 45km bekomme ich zufällig mit, dass Tinka Uphoff mit 3:32:41 Stunden auch den bisherigen Streckenrekord bei den Damen verbessert hat. Das hätte ich wegen des ziemlich starken Winds heute nicht wirklich für möglich gehalten. Insgesamt sind dieses Jahr 958 Läufer auf die Strecke gegangen – davon haben 620 die komplette Distanz geschafft.

Während die Cracks mittlerweile längst geduscht und am feiern sind, quäle ich mich also noch ein letztes Mal raus auf die Runde. Eigentlich geht nix mehr, aber ich vermeide es standhaft, zu gehen. An der VP noch schnell 2 Becher Cola in die Figur geschüttet und dann ab die Katz!

In dieser letzten Runde drehen sich meine beiden Gedanken eigentlich nur noch um die heiße Badewanne und um die Reihenfolge der 4 bis 5 Hauptmahlzeiten, die ich mir heute Abend reinziehen werde. Nach den vielen äußerst leckeren Gels fiel die Wahl der Vorspeise übrigens auf folgende kulinarische Sensation aus der Dose:

Genau in dem Moment, als ich ausfechte, ob ich danach Bratwurst mit Pommes oder Kartoffelecken zu mir nehmen werde, befinde ich mich schon auf der ganz leicht abschüssigen Zielgeraden. Die ist zwar fast 1km lang, aber das Gefälle sorgt dafür, dass mich die Hangabtriebskraft in Richtung Ziel schiebt. Dann endlich ist es geschafft:

50km in 5:13:24 Stunden

Das ist exakt 2 Stunden langsamer als meine Marathon-PB, aber ich bin trotzdem ziemlich stolz, durchgekommen zu sein und einen nahezu sensationellen 444. Platz zu belegen.

Merke: Egal wie langsam Du läufst – es gibt immer noch Luft nach unten!

Christian Meise

Christian Meise

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