Ironman Frankfurt 2014 – Ein Bericht von Christian

Anmerkung der Redaktion: Der Autor, Christian, hält die Runners Fahne in Hessen hoch. Mit 100km Events, oder dem Rennsteiglauf steht er für Ausdauer wie kein Zweiter in unserem Team. Helmut schreibt seinen Namen “Chris1oon”. Christian war live an der Schwimmstrecke und hat folgenden Bericht dazu geschrieben. Viel Spaß beim Lesen!

Ironman Frankfurt 2014
(Der längste Tag des Jahres)

Wer bin ich? Wo bin ich? Die äußerst unharmonische Weckmelodie meines Handys reißt mich an diesem Sonntagmorgen abrupt aus dem Schlaf. Es ist 5 Uhr in der Frühe (in Worten: FÜNF UHR) – eine Uhrzeit, die es bei mir eigentlich gar nicht gibt. Wo laufe ich eigentlich heute? Habe ich etwa den Start verpasst?

Nachdem mein Betriebssystem hochgefahren ist, realisiere ich endlich, dass ich heute nicht selber laufe, sondern Helmut und die anderen Runners beim Ironman in Frankfurt unterstütze. Das heutige Datum ist übrigens völlig egal – es ist schlicht und einfach 2 Tage vor dem 7:1.

Frankfurt, manchmal auch Mainhattan genannt, ist eine nahezu unbekannte Kleinstadt in der Provinz Südhessen, die sich über Banken, Börse, Messe und Ebbelwoi definiert … und eben den Ironman Anfang Juli jedes Jahres. „Ironman“ ist Angelsächsisch, heißt wörtlich „Eisenmann“ und beschreibt die Reihenschaltung aus 3,86km Schwimmen, 180km Radfahren und 42,195km laufen.

Hört sich hart an, ist es aber gar nicht – zumindest, wenn man wie ich nur zuschaut. Hilfsmittel wie Schwimmflügel, Taucherflossen und Stützräder sind nicht erlaubt. Das Gerücht, der Ironman Frankfurt wäre die Nachfolge-Veranstaltung von Schwarzeneggers „Pumping Iron“, sind übrigens definitiv falsch.

Seit 2002 ist der Begriff „Längster Tag des Jahres“ das Synonym für diesen Wettkampf, bei dem gleichzeitig die Europameisterschaft über die Langdistanz ausgetragen wird und 100 Slots für die WM in Haiwaii vergeben werden.

Jetzt aber schnell eine Tasse Bohnensaft in die Figur geschüttet…

und ab an den Langener Waldsee. Dort beginnt für die Elite um 6:45 Uhr und für die Normalos um 7 Uhr eben dieser längste Tag des Jahres, der spätestens um 22 Uhr am Römer beendet sein muss, dem Frankfurter Rathaus. Normalerweise ist das Zeitlimit beim Ironman 16 Stunden, jedoch kommen in Frankfurt nicht alle mit dem Lärm zurecht und deshalb sind es hier nur 15 Stunden.

Langen kennt man unter Anderem durch die Flugsicherung des Frankfurter Flughafens. Der Langener Waldsee ist der Badesee des Rhein-Main-Gebiets – jeder kennt die Radio-Durchsagen im Sommer: „… die Parkplätze am Langener Waldsee sind überfüllt und Laberabarber Römsdipöms ….“.

Ich muss zu meiner Schande gestehen, dass ich noch nie am Langener Waldsee war, obwohl ich seit 7 Jahren das Rhein-Main-Gebiet meine Heimat nenne. Deshalb greife ich sicherheitshalber zum Navi. Aber was ist das? Niedriger Akkustand?! Das kann nicht wahr sein – das Teil kriegt keinen Saft mehr. Kaputt? Heute?? Ausgerechnet heute??? Ich bin kurz davor, das Dreckding aufzufressen, besinne mich aber rechtzeitig und fahre einfach in die richtige Windrichtung, also nach Mörfelden-Walldorf. Orientierung ist in der Nähe von Frankfurt eigentlich ganz einfach: Ein Blick in den Himmel und man weiß sofort, zumindest wo Kelsterbach oder Mörfelden-Walldorf sind.

Die Zeit wird immer knapper, mein Blutdruck steigt – ich finde den beschissenen Weg einfach nicht. Zufällig entdecke ich einen Polizei-Wagen, dem ich mit dem Instinkt eines Apachen einfach folge. Bingo! Da vorne ist die Straßensperrung am Start der Radstrecke. Ich folge der Markierung, bin mir aber irgendwie unsicher, hier richtig zu sein, da ich mit dem Auto zwischen Absperrgittern stehe. Sicherheitshalber frage ich einen Polizisten, ob ich mich gerade mitten auf der Wettkampf-Strecke befinde. Er verneint dies, bittet mich aber, „jetzt ganz schnell“ auf den Parkplatz zu fahren.

„Parkplatz“ meint in diesem Fall das Betriebsgelände eines Kieswerks am See, wo ich durch eine Verkettung von mindestens 15 Einweisern an meinen Stellplatz gewiesen werde. Wie sich später herausstellen wird, habe ich leichte Schwierigkeiten, diesen Platz beim Rückweg sofort wieder zu finden – das Werk ist ein echtes Wegelabyrinth (o.k. – ich nehme das mit dem Apachen-Instinkt zurück).

Wie ich noch später erfahren werde, erlebt Helmut kurz vor dem Start eine noch schlimmere Odyssee: 5km Fußweg zum Start und die Angst, den Startschuss zu verpassen. Die Nerven liegen blank – und das nach einer Nacht ohne Schlaf. Nach einem Jahr Vorbereitung. Nach 2 Wochen Trainingslager auf Malle. Der Albtraum eines Sportlers!
Es ist 6:40 Uhr – ich sprinte am Ufer des Sees in Richtung Start und erlebe 5 Minuten später gerade noch den Start der durch blaue Badekappen gekennzeichneten Elite aus der Entfernung. Kienle, Frodeno & Co dürfen also endlich los. Besonders auf Jan Frodeno, dem Olympiasieger von 2008 in Peking ist man hier gespannt, da er sein Debüt auf der Langdistanz gibt.

Dann ist erst mal wieder Ruhe – angespannte Ruhe. Zeit, mich ein wenig umzusehen. Das Startareal ist sensationell – der Sandstrand am See hat die Form einer Tribüne im Fußballstadion. Dort sind zu dieser frühen Uhrzeit neben den 2.500 Athleten auch etwa 15.000 Zuschauer. Und das ohne Eintritt! Also quasi live, umsonst und draußen! Bei schönem Wetter. Bei einem traumhaften Sonnenaufgang. Was will man mehr?
Man merkt sofort, dass hier was Großes stattfindet und es ist jedem Triathleten die Glückseligkeit anzusehen, dass es endlich losgeht! Nach einem Jahr Training. Nach Hunderten von Kilometern im Wasser. Nach Tausenden von Kilometern auf dem Rad und der Laufstrecke. Das Adrenalin ist zu fühlen und zwar überall. Die von HR3 gespielte Musik tut ihr Übriges und um 6:55 Uhr läuft dann es dann endlich: HELLS BELLS von ACDC – die Stimmung ist am Siedepunkt.

Ich kann die Startatmosphäre ganz gut nachvollziehen, denn bei meinen Rennsteigläufen ist auch immer Start um 6 Uhr morgens in Eisenach – mit einer ähnlichen Teilnehmerzahl wie beim Ironman. Wie ich finde, fühlt es sich etwas merkwürdig an, zu einer so frühen Uhrzeit schon sportliche Leistung zu vollbringen – da hat sich über die Jahre nichts geändert. Aber wir machen das ja alle freiwillig und deshalb ist an dieser Stelle jetzt Schluss mit dem Geheul.

Mein Plan bestand eigentlich darin, Helmut und Bernd nochmal kurz vor dem Start zu erwischen. Das ist aber aufgrund der Neopren-Uniformen und dem Gewusel der vielen Starter völlig unmöglich. Alle sind in schwarze Ganzkörperkondome gepresst und unterscheiden sich lediglich durch die Startnummern. So kann ich nicht arbeiten!

Also muss Plan B her. Ich überlege, ob ich mich am kurzen Landgang zwischen der ersten und zweiten Schwimmrunde postiere oder am Schwimmziel. Fragen über Fragen. Mit dem Instinkt eines Singvogels entscheide ich mich richtigerweise für das Schwimmziel. Helmut weiß gar nicht, dass ich hier am Waldsee bin – ich hatte mich für die Laufstrecke angekündigt. Hahaha!

Aber jetzt ist es 6:59 Uhr – eine unendliche Menge an Leuten mit gelber Badekappe hat sich im Wasser versammelt und wartet nervös auf den Startschuss. Die grünen Badekappen der Eliteschwimmer sind schon etwa 1km unterwegs. Und dann: 5, 4, 3, 2, 1, STAAAAAAAART!

Im Bruchteil einer Sekunde verwandelt sich die ruhige Wasseroberfläche durch die los schwimmenden Athleten in ein turbulentes Gewässer. Darunter auch Helmut, Bernd und die anderen Runners, die ich gar nicht kenne (ich bin halt nur Aushilfs-Hesse). In diesem Pulk möchte ich gerade nicht stecken – da wird es den einen oder anderen blauen Fleck geben. Aber das ist halt Freiwasserschwimmen und nicht der Warmbadetag im städtischen Hallenbad. Darf man sich eigentlich als Teilnehmer eine Haifischflosse auf den Rücken schnallen? Das würde vieles einfacher machen!

Man merkt an den Reaktionen der Zuschauer, dass nach den Profis und Elite-Schwimmern nun die „normalen“ Leute im Wasser sind. Es werden nun die Väter, Mütter, Kinder, Geschwister und Kumpels angefeuert, deren primäres Ziel das vernünftige Ankommen am Römer ist und nicht eine Bestzeit.

Mir ist klar, dass nun etwa 45 Minuten vergehen werden, bis der erste Schwimmer aus dem Wasser steigt – der Streckenrekord für die 3,8km steht hier in Langen bei 42:17 Minuten, gehalten von Jan Sibbersen. Zum Vergleich: Die schnellsten Schwimmer benötigen für 1.500m auf der Bahn etwa 14:30 Minuten und für 5km im Freiwasser etwa 50 Minuten. Der in maximal 2:20 Stunden zu absolvierende Kurs besteht aus 2 nicht identischen Schwimmrunden mit einem kurzen Landgang.

Da ich die Runners nun nicht wirklich anfeuern kann, erkämpfe ich mir die Pole Position am Schwimmziel und das wird wirklich ein harter Fight mit vielen unfreundlichen Zweikämpfen. Aber ich bin relativ pünktlich da und gebe den Platz auch nicht mehr her. Zum Glück bin ich recht groß geraten und habe mir ein aggressives Zweikampfverhalten im Laufe von 10 Jahren Kreisliga-Fußball angeeignet. Zur Not wird der Nebenmann einfach ins Absperrgitter gecheckt. Auf weitere Bud Spencer Methoden kann ich zum Glück verzichten. Aber ein paar Statements muss ich über einige (zum Glück wenige) unfreundliche Zuschauer loswerden:

  • Ein Ironman-Shirt von 1983 ist nicht die automatische Reservation der Pole Position
  • Einmal pro Monat waschen wäre ganz o.k.
  • Worte wie „Penner“ und „Idiot“ haben beim Sport nichts zu suchen

Ein Zuschauer mit Ironman-Shirt und Bierbauch bis zu den Knien referiert über seine unglaubliche sportliche Vita. Irgendwas von Marathon in 2:10 Stunden, Ironman in 6 Stunden, Alpe Cermis in 15 Minuten, Mont Ventoux auf dem Klapprad und so weiter. Ich bin mächtig beeindruckt, schweige aber. Das ist so traurig, dass es mir die Tränen in die Nase treibt.

Durch die Monotonie des Wartens befasst sich mein Hirn mit lustigen Fragen, die die Welt nicht wirklich interessiert, aber immerhin lustig sind. Hier die Essentials:

  • Gab es Triathlon-Wettbewerbe in der DDR?
  • Wenn man könnte, dürfte man die 3,8km tauchen?
  • Gibt es am Langener Waldsee einen Stöpsel, den man ziehen kann?
  • Wer ist eigentlich heute Bademeister?
  • Warum schwimmt Wigald Boning 12km durch den Bodensee und läuft 100km in Biel, anstatt hier mitzumachen?
  • Auffällig viele Damen unter den Zuschauern sind wohl nur hier am See, um sich „satt zu sehen“ (das ist wirklich ganz schwer zu überhören). Kann man das kommerziell nutzen? Sollte man den Runners-Kalender ins Spiel bringen?

Was mir gerade auffällt, ist der starke Sonnenschein, der mir auf den Pelz brennt. Es wird definitiv ein heißer Tag – für den späten Nachmittag sind sogar schwere Gewitter angesagt. Hoffentlich sind dann alle Athleten im Ziel oder in einem sicheren Bereich. Diese Hoffnung wird leider nicht wirklich erfüllt – die allerletzten Finisher werden um 21:35 Uhr von einem heftigen Gewitter mit Sturm erwischt. Zum Glück scheint dabei nichts Gravierendes passiert zu sein. Mir wird während der Wartezeit auf die Athleten bewusst, dass ich für den Triathlon denkbar ungeeignet bin, denn da müsste ich ja schwimmen. Das kann ich zwar ganz gut, jedoch nur bergab. Ich kann mich noch erinnern, dass ich vor 30 Jahren einen Bademeister mit einer Kiste Bier bestechen musste, um zumindest das Seepferdchen zu bekommen.

Wie läuft es eigentlich draußen auf der Strecke? Es gibt leider kaum eine Chance, das wirklich zu erkennen (außer der Zwischenzeit beim Landgang). Man kann aber ganz gut sehen, dass sich das Feld erstaunlich entzerrt. Unter Anderem deshalb gab es Pläne, das Schwimmen vom Langener Waldsee direkt in den städtischen Bereich des Mains zu verlegen. Dieses Vorhaben wird wohl aktuell wieder aufgewärmt und gleichermaßen kontrovers diskutiert.

Es bilden sich an der Spitze tatsächlich Gruppen, die deutlich sichtbar bis zu 30 Sekunden Abstand haben. Hätte ich nicht gedacht!

Um 7:20 wird es am Schwimmziel langsam unruhiger – der Streckensprecher verkündet Jan Frodeno als Führenden. Und tatsächlich – auf dieser endlos langen Zielgeraden kommen tatsächlich die ersten Schwimmer auf mich zu, deutlich zu erkennen am begleitenden Kajak. Aber der Weg von der letzten Boje bis zum Ziel dauert eine gefühlte Ewigkeit. Die Musik dreht langsam wieder auf – waren es bis eben noch ruhige Tracks wie der SONNENTANZ, wird es nun langsam wieder euphorischer. Ich erinnere mich an SUMMER von Calvin Harris und I GOTTA FEELING von den Black Eyed Peas. Die musikalische Untermalung durch HR3 passt sehr gut zur Dramaturgie des Wettkampfs. Daumen hoch!

Und dann ist es endlich so weit – nach 45:39 Minuten verlässt Jan Frodeno als Führender das Wasser und läuft die unbequem steile Rampe am Sandstrand hoch. Die Stimmung kocht – es ist unfassbar laut. Ein Grund dafür sind auch die vielen spanischen Athleten, die neben den Franzosen nicht nur die größte ausländische Teilnehmergruppe mitgebracht haben, sondern definitiv auch die lautesten Supporter. Mann O Meter – ich habe jetzt noch ein Fiepen im Ohr von dem Gebrülle.

Nachdem die Top-Athleten das Schwimmen beendet haben, ändert sich die durchschnittliche Farbe der Badekappe immer mehr von grün nach gelb. Eine Durchsage des Streckensprechers, wonach ein französischer Athlet, der nicht mit der Elite startete, die mit Abstand schnellste Schwimmzeit erzielt habe, macht Einige am Strand ziemlich nervös. Wie sich herausstellt, hat er den Streckenrekord um gerade mal 50 Sekunden verpasst und die 3,8km in gerade mal 43 Minuten absolviert. Für den späteren Ausgang des Wettbewerbs sollte dies jedoch keine wesentliche Bedeutung haben.

Immer mehr Leute wie Du und Ich (mit gelber Badekappe) verlassen das Wasser – die wahren Helden dieses Tages. Leute, die sich zusätzlich zu Job und Familie hunderte von Stunden für diesen einen Tag gequält haben – Väter, Mütter, Kinder, Geschwister und Kumpels. Für mich absolut unvorstellbar, sich ein ganzes Jahr lang für einen einzigen Tag vorzubereiten. Was, wenn irgendwas schief läuft? Krankheit? Magen? Verletzung? Start verpasst?

Aber interessant ist auch, welche Formate Mensch da aus dem Wasser steigen: Die komplette Bandbreite vom schmalen Hemd bis zum muskelbepackten Kleiderschrank. Besonders beeindruckend sind jedoch die nicht wenigen topfitten Bierbauchträger, die die meisten Konkurrenten locker abziehen. Man erkennt ganz deutlich, dass man nicht unbedingt einen 22er BMI besitzen muss, um sportliche Leistung zu vollbringen. Um eine absolut wahres Zitat zu benutzen: JEDER kann das! Wenn er es nur will. Interessant zu wissen wäre es, wie viele Ex-Raucher, 30kg-Abnehmer oder Wetten-Verlierer an mir vorbei laufen.

Jetzt kommt aber so langsam die Zeit, wo die Runners das Schwimmen beenden müssten. Es ist aufgrund der Neopren-Uniformen jedoch extrem schwer, den Einzelnen zu erkennen. Waren die Athleten am Anfang noch deutlich mehr vereinzelt, werden es nun immer größere Pulks. Ich versuche über eine halbe Stunde, Helmut und Bernd irgendwie zu identifizieren. Bernd werde ich souverän verpassen.

Aber dann ist es soweit: Mit einem Lächeln (ja wirklich – ich kann es bestätigen) steigt Helmut nach 1:26 Stunden aus dem Wasser, einfach zu erkennen an der Frisur. Für mich der Startschuss für eine eingeübte, blitzschnelle Handlungskette: Wie ein Irrer brülle ich mit 250 Dezibel „HEEEEEEEEELLLLLMUUUUUUUUUUUT“. Als er mich erkennt und deutlich überrascht in meine Richtung läuft, checke ich meinen Nebenmann in das Absperrgitter, um Platz für das Foto zu haben. Dann ohne Kontrollblick aufs Display einfach aus der Hüfte geknipst, Helmut abgeklatscht, irgendwas hinterher gebrüllt und schon war es das. Vorbei. Jetzt muss er alleine klar kommen. Da mache ich mir zu diesem Zeitpunkt jedoch überhaupt keine Sorgen.

Obwohl sich die Zuschauerspaliere nun merklich lichten (die Meisten „verfolgen“ ihre Leute sofort auf die Radstrecke), bleibe ich natürlich bis zum Ende des Schwimmens am See. Jetzt schaue ich mir die vielen wahren Helden noch an, weil ich weiß, dass kurz vor dem Cutoff von 2:20 Stunden die Stimmung nochmal richtig steigt.

Weil bis dahin jedoch noch fast eine Stunde Zeit ist, gehe ich die paar Meter zur Wechselzone und bestaune die Kollektion an High-Tech-Fahrrädern (soll man das noch „Fahrrad“ nennen?), die dort abgestellt sind. Eine simple Rechnung verdeutlicht, welche Werte hier herumstehen: Bei etwa 2.500 gestarteten Athleten und einem Preis von angenommen 3.000€ pro Fahrrad sind das schon 7,5 Mio €, die hier herumstehen. Wahnsinn! Mein Billig-Mountainbike, das ich ab und zu mal für Alternativ-Training nutze, hat irgendwas um 220€ gekostet (Sonderangebot natürlich). Geht auch. Ich fühle mich aber klein und schwach, da ich viele technische Dinge hier zum ersten Mal registriere (ovale Kettenblätter, Trinkblase im Rahmen). Gibt es mittlerweile eigentlich Räder mit USB-Anschluss? E-Bikes zähle ich übrigens nicht als Fahrräder, sondern als Zielgruppe für Überholvorgänge bei Tempoläufen im Training, sofern da Leute draufsitzen, die selber strampeln könnten und sollten. Macht Spaß!

Jetzt aber zurück zum Schwimmziel getapert. Dort ist es inzwischen deutlich ruhiger geworden – auch die Musik. Es laufen mittlerweile die Ausdauersport-Klassiker – ich erinnere mich an ALORS ON DANSE. Damit ist die Atmosphäre wirklich sehr gut beschrieben. Auch die Zuschauer haben den Strand fast komplett verlassen.

Ich schaue mir jedoch das Schwimmen komplett bis zum Ende an. Es ist wirklich beeindruckend, wie viele durchtrainierte Athleten heute teilnehmen, die locker 65 oder 70 Jahre alt sind. Es werden insgesamt 7 Athleten das Ziel erreichen, die älter als 70 Jahre sind, der älteste Teilnehmer ist stolze 75 Jahre jung!

Dann kommt tatsächlich der allerletzte Athlet – es ist der Ire Tony O Doherty, der diese Zielgerade komplett alleine schwimmt. Man kann vom oberen Rand des Strands gut sehen, wie quälend langsam er die Zielgerade herunter kommt. Der Streckensprecher zählt die verbleibende Zeit bis zum Cutoff runter, aber er schafft es unter maximal möglicher medialer Aufregung nach 2:15 Stunden noch rechtzeitig auf die Radstrecke und wird den Wettkampf nach 14:02 Stunden erfolgreich beenden.

Fertig – das war das Schwimmen beim diesjährigen Ironman in Frankfurt. Ich fahre jetzt nach Hause und bin mir sicher, dass bei den Runners die Dinge ihren Lauf nehmen. Nehmen sie auch – aber anders als gedacht.

Nachdem das Schwimmen im Langener Waldsee südlich von Frankfurt ausgetragen wurde, werden nun 2 Radrunden in der Wetterau nördlich von Frankfurt gefahren. Den Streckenrekord für die 180km hält (noch) Andreas Raelert mit 4:20 Stunden. Wie ich auf HR3 mitbekomme, startet jedoch Sebastian Kienle, der mit 4 Minuten Rückstand vom Schwimmen kam (49:40 Minuten), die Aufholjagd des Jahrhunderts. Er übernimmt an seinem 30sten Geburtstag die Führung und wird das Radfahren nach unglaublichen 4:12 Stunden beenden. Jan Frodeno hat stattdessen das Pech des Jahrhunderts, mit 3 (!) Radpannen und den Verlust der Trinkflasche – alles konnte man live in der HR3-Fernsehübertragung mit erleiden. Auch seinen Kleiderbeutel beim Wechsel von der Rad- auf die Laufstrecke erwischt er nicht wirklich beim ersten Versuch.

Der Radkurs hat neben etwa 1.100 Höhenmetern einige Delikatessen, wie den stimmungsgeladenen Anstieg „Heartbreak Hill“ in Bad Vilbel, das Kopfsteinpflaster „The Hell“ in Hochstadt (Quasi das Paris-Roubaix des Frankfurter Ironmans) und die mental schwierige Steigung „The Beast“ nach Bergen-Enkheim (dort denkt man nach jeder Kurve, der Anstieg wäre geschafft – in Wirklichkeit geht er immer noch weiter). Ich erinnere mich ganz gut an die Veranstaltung 2011, denn da hatte es eine für diese Jahreszeit abnormale Kälte von 10°C, garniert mit Regen, Wind und allem meteorologischen Launen, die man als Triathlet so gar nicht braucht. Nach dem Radfahren waren damals viele Sportler komplett unterkühlt und beendeten das Rennen oder wurden richtigerweise herausgenommen. Heute sind die Bedingungen wirklich komplett anders – Sonne, Hitze, Strandwetter.

Ich kann den Wettbewerb ab hier nur noch online verfolgen und es läuft beim Radfahren wirklich gut: Bernd zieht ab wie irre und Helmut hält ein gutes, konstantes Tempo. Stutzig werde ich, als bei Helmut die Zwischenzeit für km 172,3 im Leaderboard einfach nicht auftauchen wollen. Was ist denn hier los? Sturz? Defekt? Chip verloren? (Das gab es mehr als einmal!) Akku leer?

Ich wünsche mir eigentlich, dass er einen Platten hat, diesen reparieren und sofort weiter brettern kann. Nach einer quälenden Ewigkeit kommt die Zwischenzeit bei km 172,3 – aber daran kann ich immer noch nicht erkennen, was passiert ist. Erst mit der Zeit bei km 180,1 erkenne ich, dass er mehr oder weniger geplatzt ist – es fehlen schlagartig 5 km/h Geschwindigkeit. Die letzten Radkilometer müssen schlimm gewesen sein – so eine Kreuzung aus Alpe d’Huez, Paris-Roubaix und Mont Ventoux. Da hilft es auch nichts, dass es die letzten Kilometer leicht abschüssig in die City rollt. Die Hitze ist zu diesem Zeitpunkt brutal – es ist ein brütender Sommertag mit mehr als 30° Celsius. Und jetzt noch einen Marathon? Das wird die Hölle! Der Ironman beginnt so richtig und es gilt jetzt das, was ein großer deutscher Fußballtorwart mal sagte:

EIER, wir brauchen EIER

Wie ich später erfahre, wird es noch schlimmer. Während Bernd den Tag seines Lebens erwischt und den Wettkampf nach sensationellen 10:42 Stunden beendet, wandelt Helmut permanent zwischen Aufgeben und Weitermachen. Ein mentaler Überlebenskampf in der Hitze Frankfurts und eine absolute Grenzerfahrung. Nur der ständige Wechsel zwischen Laufen und Gehen, das Aufsuchen von Schatten sowie der Unterstützung von Familie und der Runners-Gemeinde lässt das Ziel langsam näher rücken.

Wie fühlt man sich zu Beginn des Ironman-Marathons? Das kann ich als Nicht-Triathlet natürlich nicht wirklich beurteilen, aber ich bastele mir in diesem Moment ein geistiges Modell, das der Wirklichkeit eventuell nahe kommt: Als ich vor 2 Jahren zum ersten und bisher einzigen Mal 100km gelaufen bin, debattierten Helmut und ich schon einmal über den Vergleich 100km vs. Ironman. Das Ergebnis der Debatte bestand darin, die Weltrekorde bei den Männern in beiden Disziplinen ins Verhältnis zu setzen (Ironman: 7:41h / 100km: 6:13h). Daraus ergibt sich ein Faktor von 1,23 – oder um es anders zu formulieren: Der Langdistanz-Triathlon entspricht von den reinen Ausdauer-Belastung her 123km Laufstrecke. Deshalb stelle ich mir in diesem Moment vor, dass die Athleten am Anfang der Laufstrecke 123km – 42km = 81km in den Knochen haben. Brrrrrrrr! Ich erinnere mich noch gut, dass ich nach 80km immer irgendwie zwischen Hölle und Delirium gewechselt habe. Den Jungs (und Mädels) geht es nicht gut im Moment!!!! Zumal man nach dem Radfahren wohl erst Mal 3km eiert, anstatt zu laufen. Angeblich erreicht man nach diesen 3km die optimale Pace – wer’s glaubt!?

Der Streckenverlauf des Ironman-Marathons entspricht nicht dem des Frankfurt-Marathons im Oktober, sondern führt über 4 Runden zwischen der Uniklinik und dem Deutschherrnufer entlang des Mains. Nach Beenden einer Runde wird den Teilnehmern während des Laufens ein farbiges Band über den Arm gestreift. Durch die Streckenführung als Rundkurs, ähnlich wie beim Radfahren, wird das Gedränge mit der Zeit immer größer. Aber das macht das Rennen für den unbeteiligten Zuschauer auch interessant, denn man kann ziemlich tiefenentspannt 4 „Leidensniveaus“ betrachten und sich denken oder sagen „Gut, dass ich das gerade nicht machen muss“. Sprüche oder Plakate der Kategorie „Du siehst gut aus“ sind übrigens der absolute Schwachsinn – keiner sieht hier gut aus! Man muss es aber auch nicht gleich mit Achilles halten („Heul doch!“) – so ein gesundes Mittelmaß finde ich ganz o.k.

7 Minuten pro Kilometer bei Jemandem, der den Marathon in 2:50 Stunden rennt??? Um Himmels Willen – ich bin beim Online-Zuschauen mittlerweile nervlich völlig fertig. Die Zwischenzeiten kommen so unendlich langsam rein. Ich kann nicht mehr! Hier kommt, nicht wie sonst, nach 35km der Mann mit dem Hammer, sondern ab km 0 (in Worten: NULL) sein großer Bruder – der mit dem 20kg schweren Vorschlaghammer. Später, als ich nochmal in die Übertragung in HR3 reinschaue, bleibt auch der von Radpannen sowieso schon gepeinigte Jan Frodeno beim Marathon immer wieder stehen und massiert sich Krämpfe raus. Der hat heute auch einen gebrauchten Tag erwischt! Denke ich.

In Wahrheit brettert der nach jedem Stillstand immer wieder los und haut eine Marathonzeit von 2:43 Stunden auf den Asphalt. Hut ab! Das sah im TV überhaupt nicht danach aus. Eine Gesamtzeit von 8:07 Stunden und Platz 3 halte ich angesichts von 3 Radpannen für absolut top.

Die Sieger sind natürlich schon lange im Ziel und geduscht: An seinem Geburtstag siegt Sebastian Kienle souverän mit einer Hammerzeit von 7:55:14 Stunden – einem deutlichen neuen Streckenrekord. Bei den Damen siegt die Britin Corinne Abraham in 8:52:40 Stunden und wird somit Europameisterin. Etwa 400.000 Zuschauer haben die Sportler an der Strecke unterstützt – das ist die gleiche Anzahl wie beim Marathon im Herbst.

Nachdem Helmuts Zeit zwischen km 34,4 und 39,2 endlich endlich endlich endlich angezeigt wird, bin ich erleichtert und sicher, dass es nun irgendwie reichen wird – zur Not auf allen Vieren. Die Zeit von km 41,9 bis 42,2 dauert dann wieder eine Ewigkeit, so dass ich kurz davor bin, ins Display zu beißen. Als dann endlich die Zielzeit 12:46:18 Stunden steht, schalte ich sofort ab und frage mich

Macht er das nochmal?

Nach einigen Tagen der mentalen Erholung, in denen ich so gar nichts vom Ironman lesen, sehen und hören wollte, traue ich mich, genau diese Frage zu stellen. Ich hatte echt Sorge, dass diese Quälerei an irgendwelche fundamentalen Einstellungen rüttelt. Aber nein – alles in Ordnung. Die Antwort war absolut o.k. und somit bleibt der Ironman Germany 2014 in Frankfurt bei mir in absolut positiver Erinnerung. Musikalisch gesehen bleibt diese Erinnerung als AUF UNS von Andreas Bourani. Es war für mich als Zuschauer ein echt imponierendes Erlebnis, an dem ich sicher nicht teilnehmen, aber wieder zuschauen werde. Glückwunsch an alle Runners zum bestandenen Ironman-Diplom.

Wo liegt eigentlich Hawaii?

Christian Meise

Christian Meise

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