Rennsteig Supermarathon – Krämpfe sind auch nur Krämpfe

Normalerweise heißt es „They never come back“. Das gilt allerdings nur fürs Boxen und so quäle ich mich an diesem Freitagnachmittag wie schon 2012 über A3, A7 und A4 von Frankfurt in Richtung Eisenach – wir schreiben den 24.Mai 2013. Ich bin verdammt spät dran – ich muss bis 20 Uhr meine Startunterlagen vor Ort abgeholt haben. Das wird gerade noch so klappen. Die Staus haben zumindest den Vorteil, dass ich noch mal an 2012 zurück denken kann, als ich zum ersten Mal diese 72km durch den Thüringer Wald gelaufen bin – mehr zufällig als geplant, denn der einzige Grund für meinen Start war die rein mathematische Tatsache, dass 72km etwa die Mitte zwischen 50 und 100km darstellt. So simpel ist das Leben manchmal! Es war trotz Frankfurt-Marathon und 100km in Rodenbach mit weitem Abstand das sportliche Highlight des Jahres!

Was rein pragmatisch angedacht war, hat mich im Nachhinein derart beeindruckt und gefangen genommen, dass ich nicht mehr davon weggekommen bin. Es geht dabei nicht um sportliche Fakten – es geht um die ganze Gegend, die Mentalität der Leute, die Stimmung und den Mythos Rennsteiglauf, der weit über die Bedeutung eines Volkslaufs hinaus geht. Eine Erkenntnis, die vor mir schon Zehntausende hatten, aber mich erreichte sie erst im vergangenen Jahr (ein Mancher nennt den Lauf deshalb ein „Fluidum“). Da ich gerade mal 50km westlich von Eisenach aufgewachsen bin, muss ich zu meiner Schande gestehen, dass ich 20 Jahre lang nicht gepeilt habe, was für eine tolle Gegend hier, kurz hinter der ehemaligen DDR-Grenze auf mich wartet. Warum nur?

Aber jetzt muss ich mich echt beeilen – es ist kurz vor 19 Uhr und ich fahre über die A4 in Richtung Eisenach. Der einzige Vorteil einer langen Autofahrt ist die Tatsache, dass man genauso lange laut Musik hören kann. Diesen Weg über die A4 sind wir Mitte der 90er zu unseren Disco-Zeiten eigentlich jeden Samstag gefahren, da in Eisenach das legendäre MAD beheimatet war. Dort haben wir gelernt, dass Brause selten eine Dusche meint, nicht der Imperativ von brausen ist, nicht die weibliche Form von Browser beschreibt, sondern die hiesige Vokabel für Limonade ist. Jedenfalls merkt man auf der A4 anhand der Teerdecke immer noch den Übergang von Hessen nach Thüringen. Es ist aber de facto so, dass es auf ostdeutschen Autobahnen trotz des besseren Zustands nie so etwas wie beheizte oder vergoldete Leitplanken gab. Dies waren übertriebene Auswüchse diverser westlicher Spaßvögel oder Soli-Neider.

Man hat aber in den letzten beiden Jahren die A4 komplett an Eisenach vorbei geführt, so dass mich mein etwas älteres Navi ein kurzes Stück über „nicht digitalisiert“ ans Ziel leitet. In Eisenach war als Osthesse jeder – ein Besuch der Wartburg gehörte schon immer zum Pflichtprogramm während der Schulzeit. Heute verbindet man ESA aus wirtschaftlicher Sicht mit dem Opel-Werk und kultureller Sicht mit dem Thüringer Landestheater. Auf den letzten Metern vor dem gleichen lustigen, schlammigen und halb überfluteten Parkplatz wie im vergangenen Jahr geht es durch eine von Kopfsteinpflaster bedeckte Straße, die so wellig ist, dass meine Tachonadel zwischen 10 und 50 seismografisch pendelt – Blitzen kann hier gar nicht erlaubt sein! Auf jeder Kirmes müsste man für so was mindestens 5 Euro blechen. Aber egal: Auto abstellen und ab zum Marktplatz. Dort schnell meine Klamotten abgeholt und für 10 Euro eine Busfahrkarte für die Rückfahrt von Schmiedefeld nach ESA gekauft – übrigens auch eine 75 Minuten lange Achterbahn-Fahrt, was nicht an der Straße liegt, aber für mich der härteste Part im vergangenen Jahr war. Eine Nudel- oder Pastaparty im üblichen Sinn findet hier nicht statt: Stattdessen gibt es im Festzelt für alle Läufer Semmelknödel mit Gulasch und Rotkohl. Das lasse ich mir natürlich nicht entgehen, zumal ich Hunger habe wie ein Steppenwolf. Im Zelt spielt gerade eine Coverband ziemlich gute Oldies – sogar ein Antisänger wie ich lässt sich von Simon & Garfunkel’s „Mrs. Robinson“ mitreißen. Das passt irgendwie ziemlich gut zum Rennsteiglauf – während bei den „Event-Läufen“, wie ich zum Beispiel den Frankfurt-Marathon auch bezeichnen würde, eher die neueren Sachen aus der Preisklasse David Guetta oder Black Eyed Peas laufen, spielt man hier eher die guten alten Sachen.

An dieser Stelle wird mir auch bewusst, was für ein massiver Aufwand die Organisation dieses Laufs bedeutet, denn nicht nur hier in ESA, sondern auch in den anderen Startorten Oberhof und Neuhaus steht gerade das gleiche Festzelt und eine Band auf der Bühne. Lediglich in Schnepfenthal, dem Startort der 35km-Wanderung, lässt man es ein klein wenig gemütlicher angehen. Im Prinzip ist der Rennsteiglauf eine Art Sternenlauf, bei dem bis auf die 35km-Wanderung alle Strecken in Schmiedefeld enden. Insgesamt nehmen in diesem Jahr etwa 16.000 Läufer, Walker, Wanderer und Handbiker das Rennen auf den verschiedenen Strecken auf:

  • Supermarathon (72,7km) – Startort Eisenach
  • „Marathon“ (43,5km) – Startort Neuhaus am Rennweg
  • Halbmarathon (21,1km) – Startort Oberhof
  • Nordic Walking / Wanderung (35km) – Startort Schnepfenthal / Ziel Oberhof
  • Nordic Walking / Wanderung (17km) – Startort Oberhof
  • Special Cross (3,7km) für Menschen mit Handicap in Schmiedefeld
  • Junior Cross (1-9km) in Schmiedefeld

Dies bedeutet neben der Organisation in den Start- und Zielorten auch, dass etwa 120km des 170km langen Rennsteigs für diesen einen Tag als Laufstrecke präpariert werden müssen – eine gewaltige Aufgabe, die nur zu bewältigen ist, weil sich etwa 1.500 (!) freiwillige Helfer in den Dienst der Sache stellen. Man erkennt hier ganz deutlich das hohe Maß an Identifikation der Thüringer mit der Veranstaltung, die einen enormen Stellenwert für das Land besitzt – natürlich auch in wirtschaftlicher und touristischer Hinsicht. Hauptverantwortlich wird der Rennsteiglauf als einer der ganz wenigen Veranstaltungen von einem eigenen Verein organisiert, dem 1990 gegründeten GutsMuths-Rennsteiglaufverein. Er hat etwa 1.000 Mitglieder und wurde nach dem Ende der DDR aus der Taufe gehoben, weil zu diesem Zeitpunkt eine Krise zu verzeichnen war, da viele DDR-Sportler zunehmend zu Großveranstaltungen in den Westen und ins Ausland reisten.
So – der Teller ist leer, ich bin satt – jetzt muss ich mich von der Party leider losreißen, denn um 2:30 Uhr klingelt der Wecker. Ab in Richtung Bebra ins Hotel Mama und schnell ins Bett, damit ich überhaupt noch ne Mütze Schlaf kriege. Um 22 Uhr habe ich das dann endlich geschafft, aber so richtig müde bin ich nicht. Als es dunkel ist, kreisen die Gedanken um die legendären Geschichten aus den Anfangsjahren des Laufes. Wie fühlten sich wohl 1973 die 4 Studenten (Hans-Georg Kremer, Wolf-Dieter Wolfram, Hans-Joachim Römhild, Jens Wötzel) am Vorabend ihres ersten Rennsteiglaufes, wo keiner von ihnen jemals auch nur ansatzweise eine solche Strecke bewältigt hatte? Sie wussten angeblich nicht einmal, wo genau das Ziel sein sollte und dementsprechend auch nicht, wie lange die Laufstrecke werden würde. Sie liefen letztendlich vom Bahnhof ESA bis nach Masserberg etwa 84km. Auf die Frage, wie lange man gelaufen sei, antwortete Hans-Georg Kremer in Masserberg angeblich „Etwa 100km“ und damit hatte man nach 9:55h das „Ziel“ erreicht und beendete dieses Abenteuer. Sieht man sich auf den alten Fotos die Sportkleidung und die „Laufschuhe“ an, fragt man sich, wie die das ohne bleibende Schäden überstehen konnten. Ihr ursprüngliches Ziel war übrigens gar kein Non-Stop-Ultramarathon, sondern ein mehrtägiger Etappenlauf ähnlich der Tour de France im Radsport – die Testläufe dafür scheiterten jedoch.

Eine weitere legendäre Geschichte ist der „Taschenlampenstart“ von 1975 am Heuberghaus (was an der heutigen Strecke bei km 31 passiert wird) um 1 Uhr in der Nacht – zu Zeiten als Stirnlampen noch nichts mit Laufsport zu tun hatten. Solche Geschichten, die sich weitab von der Norm eines City-Marathons abspielen, der dunkle und leicht unheimlich wirkende Thüringer Wald, die vielen harten Anstiege und die unglaubliche Stimmung im Ziel in Schmiedefeld sind es, die die Faszination Rennsteiglauf ausmachen. Mit diesen Bildern im Kopf schlafe ich ziemlich spät ein – nichts ahnend, welch Nerven zerfetzende 72km auf mich warten sollten…

Es ist 2:30 Uhr Ortszeit Rautenhausen – meine Armbanduhr weckt mich und ich stehe 0,1 Sekunden nach dem ersten Piepton senkrecht im Bett. Bloß nicht verschlafen – davor hatte ich richtig Bammel. Aber ist ja noch mal gut gegangen! Hätte ich die Armbanduhr überhört, hätte mich 5 Minuten später mein Handy mit 100 Dezibel aus dem Schlaf gerissen. Und hätte das immer noch nicht gereicht, wäre weitere 5 Minuten später mein alter Radiowecker mit 190 Dezibel mehr oder weniger explodiert. Alleine die Druckwelle hätte mich aus dem Bett geworfen. Ich bin aber sehr froh, dass schon die erste Stufe dieser Eskalationsleiter zum Erfolg geführt hat.

Kurze Zeit später stehe ich am Küchenfenster, schlürfe meinen Kaffee, mampfe mein Brötchen und registriere, dass sich meine Nackenhaare sträuben, weil das Thermometer 2°C (in Worten: ZWEI GRAD) anzeigt. Oje – wir sind hier auf 300m Höhe. Wie soll das denn auf dem Inselsberg und dem Beerberg werden, die über 900m hoch sind? Wird es wieder so ein Arctic-Lauf wie der Frankfurt-Marathon 2012? Ice Age im Thüringer Wald?
Also – dann Sachen geschnappt, ab ins Auto und los geht’s. Die 40 Minuten Fahrzeit nach ESA geben mir die Gelegenheit, 40 Minuten lang so laut Musik zu hören, dass die Tachonadel schon wieder vibriert. Das ist mit Sicherheit nicht gesund, aber an diesem Tag muss das so! Endlich in ESA angekommen, registriere ich, dass noch nicht viel los ist. Kein Wunder – wir haben 4:30 Uhr am Morgen. Insgesamt ist es in diesem Jahr so, dass inklusive Nachmeldern 2.269 Sportler den Supermarathon in Angriff nehmen – 230 weniger im Vergleich zu 2012. Das liegt aber daran, dass im vergangenen Jahr mit der 40.Austragung ein Jubiläumslauf stattfand, bei dem viele Traditionsläufer ihren „Ausstand“ gegeben haben. Es ist eine markante Tatsache, dass viele derjenigen, die einmal den Supermarathon geschafft haben, immer wieder hier antreten – ich bin wohl gerade dabei, mich dort einzureihen. Deshalb gibt es eine große Gruppe der so genannten Traditionsläufer, die mindestens 25 Mal angetreten sind – das sind sage und schreibe 800 (!) Sportler. In diesem Jahr sind tatsächlich Urgesteine dabei, die sich zum 40. Mal die lange Strecke geben. Das ist zum einen eigentlich nicht zu glauben, zeigt aber zum anderen die Faszination, die der Rennsteig ausübt. Waren es 1973 und 74 im Prinzip noch Testläufe von 4 bzw. 16 Freunden, standen 1975 beim ersten offiziellen Wettkampf bereits 815 Sportler an der Startlinie. Damit war diese Massenbewegung nicht mehr aufzuhalten und nach einigen Jahren musste das Teilnehmerfeld limitiert werden. Die Meldekarten (die es heute in dieser Form immer noch gibt) waren in der DDR eine heiß gehandelte Ware. Sportlern aus dem Ausland wurde eine Teilnahme generell verboten – es kursieren jedoch Geschichten, wonach es Läufern aus der BRD gelungen sein soll, unter falschem Namen trotzdem teilzunehmen. Lange Zeit galt die Teilnehmerzahl von 2.510 Läufern aus dem Jahr 1979 als unerreichbar, bis im vergangenen Jahr beim Jubiläumslauf diese Marke doch geknackt wurde. Der Supermarathon lebt hauptsächlich von seinen Traditionsläufern und kein anderer Ultramarathon in Europa kann solche Teilnehmerzahlen vorweisen – das liegt definitiv daran, dass der größte Teil der Starter tatsächlich Thüringer sind, die sich jedes Jahr genau auf einen langen Lauf vorbereiten, nämlich „ihren“ Rennsteiglauf. Vergangenes Jahr habe ich mich bei den 100km in Hanau-Rodenbach (was ja immerhin Deutsche Meisterschaften waren) mit nur 117 Finishern noch gefragt, wo diese vielen Läufer, die eigentlich in der Lage sind, eine solche Strecke zu schaffen, denn stecken. Aber inzwischen ist klar, dass der Rennsteiglauf ein absolutes Unikat mit eigenen Gesetzen und eigenen Biografien ist.

Jetzt noch schnell meinen Kleiderbeutel am Gepäck-LKW abgeben und dann kann’s auch schon losgehen. Für heute ist eigentlich lang anhaltender Regen angesagt, der aber letztendlich nicht kommen wird – jedenfalls für mich nicht. Vor lauter Panik bin ich am Donnerstag noch schnell in den Sportladen meines Vertrauens gefahren und habe 50 Euro in eine Regenjacke investiert. Na ja – jetzt habe ich wenigstens eine. Aber die Vorstellung, bei 5°C so 8 bis 9 Stunden im Regen durch den Thüringer Wald zu laufen, war ziemlich Brrrrr!

Das Duell

Also gut – ich gestehe es: Ich gehe nach den 8:48h vom Vorjahr dieses Mal mit dem (nicht sehr bescheidenen) Ziel an den Start, nach spätestens 7:59h in Schmiedefeld anzukommen. Das sind ≈ 9,1km/h oder 6:35min/km – bei dieser Strecke ein ambitioniertes Ziel für einen 3-Tage-die-Woche-Trainierer wie mich. Helfen soll mir dabei Virtual Partner®, also das in meiner GPS-Uhr gespeicherte Zeit- und Streckenprofil vom letzten Jahr. Dadurch weiß ich jederzeit, wie viel Vorsprung oder Rückstand in Metern ich im Vergleich zum vergangenen Jahr habe. Da Virtual Partner® für dieses Duell viel zu kooperativ klingt und die Abkürzung VP schon für Verpflegungsstelle reserviert ist, einige ich mich hiermit ab sofort auf VM (soll für „Virtual Meise“ stehen – bitte nicht mit Virtueller Maschine verwechseln). Auch in diesem Jahr stuft mich übrigens meine Waage mit 84kg ins Cruiser-Gewicht ein – alle Maßnahmen zur Gewichtsreduzierung (Fingernägel schneiden, usw.) haben mal wieder nichts genutzt.

Die Erfahrung hat mich gelehrt, dass nach etwa 2,5km Strecke eine saublöde Engstelle kommt, an der ich im vergangenen Jahr ein wenig Zeit verloren habe. Das soll mir nicht schon wieder passieren und deshalb mogele ich mich bei der Startaufstellung ziemlich nach vorne. Endlich geht es los! Übrigens: Woran merkt man beim Rennsteiglauf ohne Blick auf die Uhr, dass gleich der Startschuss fällt?

  1. Dein Nebenmann hört endlich auf, über bestenlistenfähige 100 Meilen-Läufe zu sabbeln.
  2. Der Hubschrauber des MDR steht senkrecht über Dir und föhnt Dir die Haare trocken (falls nass).
  3. Der andere Nebenmann erwähnt noch schnell, dass er heute nur einen Trainingslauf für Biel in 2 Wochen machen will.
  4. Die Superscherzkekse gehen runter zum Tiefstart.

Tja – leider stimmen alle 4 Optionen, aber das sicherste Anzeichen ist jedes Jahr der Hubschrauber vom MDR, der das Feld auf den ersten Kilometern begleitet (und dabei die Haare föhnt).

Los geht’s

Karamba – es ist 6 Uhr. Endlich geht es los! Die ersten 500m sind so richtig leicht: Schön flach, asphaltiert und eine ordentlich breite Straße. Ich gebe hier ein wenig Gas, um dem großen Pulk an der Engstelle zu entgehen. Dann geht es nach dem Nikolaitor um die erste Rechtskurve und zack, schon türmt sich der Berg vor mir auf. Tja – da waren sie wieder, meine Probleme: Es warten zum Warmmachen 25km Anstieg mit 700m Höhe auf den 916m hohen Inselsberg (wo übrigens auch etliche Tagesausflüge während der Schulzeit ihr Ziel hatten). Aber was hilft es – ich muss da wohl hoch, wenn ich VM platt machen will. Dafür gibt es noch keine App. Lustig finde ich den Menschen, der scheinbar an dieser ersten Kurve wohnt und wie vergangenes Jahr all seine Startnummern vom Rennsteiglauf an einer Wäscheleine aufgehängt hat. Sieht wirklich kultig aus – die Frau / der Mann weiß definitiv, wie man W A D E N K R A M P F buchstabiert.

Und sieh an: An der Engstelle komme ich ohne Probleme durch (ich bin ja schlank).

Der „richtige“ Rennsteig ist das hier ja auch noch nicht – den erreicht man erst bei km 7 an der Hohen Sonne. Er beginnt hier ganz in der Nähe in Hörschel, einem Stadtteil von Eisenach und führt über 170km nach Blankenstein. Dabei verläuft er auch etwa 15 Kilometer durch Bayern und war deshalb zu DDR-Zeiten nicht voll zugängig. Es gibt sehr viele Wanderer, die die komplette Strecke in einer 6-Tages-Wanderung absolvieren. Der Sage nach soll es Glück bringen, in Hörschel einen Stein aus der Werra zu entnehmen und in Blankenstein in die Selbitz zu werfen. Ein paar ganz hart gesottene Sportfreunde aus Thüringen (Lauffeuer Fröttstädt) veranstalten Ende August einen Non-Stop-Lauf über die kompletten 170km. Großen Respekt – aber das ist mir dann deutlich zu hart, zumal man über Nacht unterwegs ist.

Die ersten Kilometer laufen echt gut – ich nehme VM recht schnell ein paar hundert Meter ab. Ein paar ganz ordentliche Steigungen hat dieser Überführungsweg zur Hohen Sonne aber doch schon – aber das ist noch kein wirkliches Problem. Dafür hat man sich ja vorbereitet, wobei aber von „Plan“ keine Rede sein kann. In diesem Jahr habe ich komplett auf Tempotraining verzichtet und alles auf lange Läufe gesetzt (die so lang waren, dass ich in den Zeiten dazwischen sowieso viel zu müde war, um Intervalle zu laufen oder so was – ich habe aber ganz viele Sauna-Intervalle gemacht und auch Intervalle geschlafen). Meine hauptsächliche Trainingsstrecke war wieder der Anstieg von Oberursel zum Großen Feldberg, wo man auf 9,5km insgesamt 600m Höhe gewinnt. Als ultimative Härte mussten es 2 Wochen vor dem Wettkampf 56km sein – mit kleinen Umwegen über den Sandplacken und den Kleinen Feldberg. Danach habe ich mal dieses Höhenprofil mit dem vom Rennsteig 2012 verglichen, um einschätzen zu können, ob das tatsächlich hart genug war:

urop-hoehenprofil
Höhenprofil

Die Antwort war ein ziemlich eindeutiges „????“. Irgendwie kommen mir die 56km auf dieser Grafik nur so merkwürdig kurz und harmlos vor in Relation zu den 72km (geht nur mir das so?). Aber eines muss man den Konstrukteuren des Feldbergs lassen: Die Steigungen sind noch härter als im Thüringer Wald. Und noch was am Rande: Wer es wirklich hart und dreckig braucht, läuft oder wandert bitte die 3km vom Sandplacken hoch auf den Feldberg. Diese Steigung ist in ihrer Dramaturgie eine ziemlich sadistische 1:1 Kopie vom Inselsberg – je näher man zur Bergkuppe kommt, umso steiler wird es. Während der Vorbereitung habe ich leider meine „Heimat“-Marathons in Mainz und Kassel mal wieder links liegen gelassen. Ich gelobe Besserung für die Zukunft! Generell glaube ich, dass sich bei Strecken wie dem Rennsteig gar nicht die Fitness verbessert, sondern sich gleich das Erbgut verändert. Trotzdem bin ich mir ganz sicher, ziemlich schlank und fit zu sein. Das merke ich trotz 84kg grundsätzlich daran, dass ich wegen des fehlenden Körperfetts anfange zu frieren, ohne krank zu werden. Es erstaunt und belustigt mein Umfeld immer, wenn ich außerhalb der Wintermonate anfange, mir meine Wärmflasche zu machen (ja, schon gut – einen Weicheipunkt an mich!). Aber meine Oma hat halt gesagt, dass Wärmflasche gegen Alles hilft – rezeptfrei sogar!

Oh wie schön – da vorne ist bei km 7 am Waldsportplatz endlich die erste Getränkestelle. Unter „Waldsportplatz“ darf man sich nicht so was wie ein Fußballfeld vorstellen – es ist eher eine nichts sagende Rasenfläche zur, na ja nennen wir es mal Körperertüchtigung (so was wie Liegestütze, Kniebeugen und sonstige Verrenkungen). Ich bin bis hierher sehr zufrieden, denn ich habe VM satte 500m Rückstand aufgebrummt. Also kann ich in Ruhe erst mal was trinken. Auf die Frage nach einem Kaffee mit Milch und Zucker (nicht vergessen: Wir haben 6:40 Uhr) erhalte ich mit Augenzwinkern ein „Nü wern se ma net fresch!“. Haha! Dann nehme ich halt Wasser und ziehe weiter.

Na so was – meine Uhr meldet „Streckenabweichung“! Was soll das denn? Haben wir uns alle verlaufen? Kann gar nicht sein, denn kurze Zeit später bin ich an der Hohen Sonne. Dieser etwas merkwürdige Name ist kein neuer Planet oder Stern, den man hier entdeckt hat, sondern meint eine Waldsiedlung, in deren Mittelpunkt ein altes, mittlerweile zerfallendes Jagdschloss steht. Außerdem kreuzt hier die B19 den Rennsteig und deshalb hat es hier immerhin einen guten Imbiss und den unvermeidlich großen Wandererparkplatz (zu empfehlen ist ein Gang durch die hier beginnende Drachenschlucht). Ich will noch erwähnen, dass die Currywurst am Imbiss exzellent ist. In früheren Jahren war die Hohe Sonne übrigens Startort des Supermarathons. Natürlich ist der „neue“ Start in ESA logistisch deutlich sinnvoller – da ist der Benefit für die Stadt auch deutlich höher. Bis hierhin ist es ein unspektakulärer Lauf – da kann man sich wenigstens ein paar Gedanken um das Drumherum machen. Das wird sich definitiv noch ändern!

Na dann willkommen auf dem „echten“ Rennsteig, dem wir jetzt 61km folgen werden. Orientierung ist hier kein Problem, denn es wimmelt ja vor Wegweisern und falls diese mal zweideutige Aussagen treffen, folgt man einfach den mit „R“ angepinselten Bäumen (übrigens: Hat man einen Wegweiser mit dem Schriftzug „RR“, dann ist man auf dem Rhön-Rennsteig-Weg gelandet und somit falsch).

Also eines muss ich sagen: Es ist bewundernswert, wie sehr die Thüringer hinter der Veranstaltung stehen. Wie anders kann man erklären, dass um 6:45 Uhr am Samstagmorgen gefühlte 300 Leute an der Hohen Sonne stehen und das Läuferfeld anfeuern? Das ist kein normaler Lauf!

Bei km 8 bin ich auch wieder konform zum Streckenprofil von 2012 – das sagt jedenfalls meine Uhr. Jetzt blicke ich auch, woher die „Abweichung“ kam: Man hat die Streckenführung ein wenig geändert, um einen besonders matschigen Weg zu vermeiden – nämlich direkt an der Einmündung auf den Rennsteig. Macht Sinn, denn die unbefestigten Waldwege sehen vom Regen der vergangenen Woche teilweise echt übel aus. Das hat aber genauso keinen wirklichen Einfluss auf die gelaufenen Zeiten, wie die leicht verlängerte Strecke. Offiziell sind es seit 2003 genau 72,7km aber durch einige zusätzliche, aber sinnvolle Umgehungen waren es auch im vergangenen Jahr schon 73,2km. In diesem Jahr sollten es 73,4km werden. Aber diese marginalen Dinge interessieren hier keinen, denn die Länge des Supermarathons variierte im Laufe der Zeit sowieso zwischen 64 und 84km.

Da vorne naht das 10km-Schild und ich passiere es nach genau 59 Minuten – das passt sehr gut in das Konzept (äh – was für ein Ding?), das ich mir überlegt habe. Läuft gut bis hierher. Alles andere hätte mich aber auch gewundert nach 3 Flachland-Läufen über 31km und Feldberg-Quälereien über 44, 50 und 56km (Der Auftakt der Vorbereitung waren die 44 km am Feldberg – den Muskelkater kann und will sich keiner vorstellen! Ein Tipp: Minimiert die Anzahl der Toilettengänge nach so was!). An der Getränkestelle Ascherbrück bei 12,6km wird es Zeit, das erste Gel reinzuwürgen (Orange – lecker!). Mein Gürtel ist dieses Jahr eine abenteuerliche Konstruktion von Nahrungs- und Ausrüstungsgegenständen: Gel, Schlüssel, Handy, Traubenzucker, Busfahrkarte, Geld, Führerschein, usw. Fehlt nur noch der Akkuschrauber.

Ja, geschafft! Ich bin endlich bei km 15,7 angekommen. Aber da ist weder eine Verpflegungsstelle, noch eine Currywurst-Bude, noch eine Freibier-Kneipe! Das ist schlicht und einfach der Punkt, wo man zum ersten Mal die „Zielhöhe“ von Schmiedefeld hat, also 711m – also ein rein mathematischer Meilenstein. Wenn man Talent in der Autosuggestion hat, also in der Lage ist, sich selber zu bescheißen, kann man sich hier glaubhaft einreden, es wäre ab jetzt nur noch 57km ebene Strecke bis ins Ziel. Vor mir liegt die erste große Verpflegungsstelle an der Glasbachwiese bei km 17,9 mit Zwischenzeitnahme. Dort lautet der Zwischenstand

1:45:02h – 1:51:51h -> 6:49 Minuten Vorsprung

Ich überlege kurz, ob ich Mitleid mit VM kriegen soll. Vielleicht warte ich ja einfach ein paar Minuten, um die Sache spannend zu halten. Vielleicht eine Pseudo-Pinkelpause, obwohl ich gar nicht müsste! Im Gefühl des sicheren Sieges begehe ich wahrscheinlich einen Fehler…

Aber Mitleid hin oder her – es muss weiter gehen. Es kommt nun ein Streckenabschnitt, der so überhaupt nichts für Asphalt-Cowboys ist: Der Rennsteig ändert sich vom bequemen Wanderweg zur anspruchsvollen Crossstrecke. Los geht’s mit einer 500m langen Wurzelpassage:

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Wurzelwege (km 18)

Ich bin ziemlich froh, als ich diesen Abschnitt ohne Sturz hinter mir lasse und die paar Meter Asphalt beim anschließenden Überqueren der Straße tun echt gut! Leider wartet sofort danach die nächste Herausforderung – eine einige hundert Meter lange Geröll-Strecke, auf der man sich jeden Schritt genau überlegen muss.

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Geröllwüste (km 19)

Sinnvollerweise läuft man hier am Wegrand, denn die Verletzungsgefahr durch Umknicken ist nicht unerheblich. Zum Glück dauert diese Tortur nicht sehr lange.

Jetzt wird es aber langsam ernst – so ab km 20 kommen die ersten richtig giftigen Anstiege, bei denen zu überlegen ist, ob man läuft oder geht. Das ist sowieso die Gretchen-Frage bei diesem Streckenprofil: Es gibt die Fraktion, die versucht, komplett durchzulaufen, um nicht den Rhythmus zu verlieren und es gibt diejenigen, die konsequent von Anfang an alle schweren Anstiege gehen. Ich entscheide mich dafür, bis km 22 Alles zu laufen und am Inselberg zu gehen, weil es dann für den 3-Tage-die-Woche-Trainierer einfach zu steil wird (das gilt aber für 98% aller Teilnehmer). Die eigentliche Schwierigkeit des Supermarathons liegt meiner Meinung nicht in

  • der Streckenlänge von 72km
  • der Tatsache, dass das Ziel 500m höher liegt als der Start
  • den 1.480 Höhenmetern
  • der frühen Startzeit 6 Uhr

sondern an diesen elendig vielen Nadelstich-Anstiegen, denen grundsätzlich ein Gefälle folgt, das so steil ist, dass man überhaupt keine Zeit gut machen kann. Das gilt übrigens auch schon für diesen 25km langen Anstieg zum Inselsberg – dort sind echt genügend Gefällestrecken drin! Wäre die ganze Strecke eine gleichmäßige schiefe Ebene, dann würde der Anstieg von 210m (ESA) auf 711m Höhe (Schmiedefeld), verteilt auf 72,7km nicht mal einer Steigung von 1% entsprechen – also daran liegt es nicht! Nach den flachen 100km in Rodenbach vergangenes Jahr hatte ich behauptet, dass sich die 72 Rennsteig-Kilometer wie 90 flache km anfühlen. Mit einem Jahr Abstand und etwas mehr Erfahrung will ich das auf 85km korrigieren. Ja genau – es fühlt sich nach einem flachen Doppelmarathon an.

Bei meinem ersten Rennsteig im Olympiajahr 2012 war meine Wahrnehmung nach 55km irgendwann so trübe, dass ich im Nachhinein glaubte, frontal vor eine dreistellige Zahl an Bergen geprallt zu sein. Deshalb laufe ich in diesem Jahr so, dass ich immer noch so viel Reserve habe, um einen unerwarteten Berg zu schaffen. Letztes Jahr habe ich mich auf das offizielle Höhenprofil verlassen – in diesem Jahr kann ich auf meine GPS-Daten von 2012 zurück greifen:

Höhenprofil Supermarathon
Höhenprofil Supermarathon

Diese lustige Karte habe ich zu Recht getüdelt, um immer zu wissen, wann eine Verpflegung kommt und wie lange der Anstieg noch dauert, mit dem ich gerade kämpfe (rot markiert sind übrigens die Hardcore-Passagen, wo ich mir im Vorfeld trotz allen Kampfgeistes eingestanden habe, Gehpausen einzulegen – falls nötig). Das ist genau das Stichwort – diese Karte zücke ich jetzt, so etwa bei km 20 immer öfter. Irgendetwas passt nicht – nachdem ich VM schon über 1,2km distanziert hatte, holt er im Moment wieder auf. Und überhaupt: Ich merke, dass ich Durst habe. Das ist überhaupt kein gutes Zeichen. Hätte ich an der Glasbachwiese doch nicht die leckeren Fettenbrote essen sollen? Jedenfalls begleitet mich dieses ungute Gefühl bis km 30. Bis dahin kippe ich an jeder Getränkestelle 3 Becher Wasser in die Figur, um die Sache endlich in den Griff zu kriegen.
Bei km 20 sind 1:58h rum – immer noch ok, aber nicht überragend. Dann ist wirklich Schluss mit lustig, denn bei km 22,5 beginnt der erste Anstieg im Bereich 30%, der nicht mehr zu laufen ist. Deswegen versuchen alle, möglichst schnell zu gehen. Das ist nicht wirklich meine Stärke. Unterbrochen durch ein kurzes ebenes Stück bei km 24 geht es dann endgültig hoch auf den Inselsberg. Während des Anstiegs fällt mir ein Schild auf, das mein Kreativzentrum volle Möhre aktiviert:

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Achtung Sportveranstaltung!

Es erinnert mich an das offizielle Motto „Hart aber schön“ auf den Flyern und Plakaten zum diesjährigen Rennsteiglauf. Daraus kann man so herrlich viele Varianten ableiten:

  • Hart aber fair
  • Hart aber herzlich
  • Hart aber heulen is nich!
  • Hart aber machbar
  • Hart aber porös

Puh – 2:40h Anstieg liegen hinter mir und kalt ist es hier oben. Deshalb schnell nach unten. Blöderweise muss man am Turm eine ziemlich ekelhaft zu laufende Treppe schlucken – auch noch nass. Aber auch das geht vorbei.

Nun aber kommt das schlimmste Stück der ganzen Strecke: Dieser fürchterliche Abstieg zur Grenzwiese, bei dem man auf nur 1,3km Strecke ganze 200m Höhe verliert. In den steilsten Passagen sind es 38% Gefälle und der Teerbelag ist total zerlaufen. Ich laufe hier auch gar nicht mehr, sondern gehe mit sehr langen Schritten. Dadurch will ich zu viele harte Schläge vermeiden, die in die Knie und den Rücken gehen. Ein paar Kollegen gehen (ganz ernsthaft) diese relativ kurze Strecke rückwärts. Auf die Frage warum, kriegt man eine plausible Antwort: Während man in den sehr steilen Anstiegen die Zehen extrem nach oben biegen muss, muss man sie in dem noch steileren Gefälle genauso nach unten biegen. Dadurch kann man sich relativ leicht Schmerzen in der Achillessehne einhandeln.

Treppe am Inselsberg
Treppe am Inselsberg

 

Downhill vom Inselsberg
Downhill vom Inselsberg

Die Steilheit des Gefälles erkennt man auf dem Bild einigermaßen, wenn man den Baum mit dem Rennsteig-R als Referenz nimmt. Endlich unten! Hunger, Durst. Im touristischen Alltag heißt die Grenzweise eigentlich der Kleine Inselsberg mit den entsprechenden Parkplätzen, Gaststätten und einer 1km langen Sommerrodelbahn. Das Gemeine ist hier nur, dass genau gegenüber dem Verpflegungsstand eine Bratwurst-Bude steht (die natürlich heute Hochkonjunktur hat). Da wird der Hund in der Pfanne verrückt und es erinnert mich an einen Grönemeyer-Song aus den 80ern („Was soll das?“). Meine linke Gehirnhälfte befiehlt mich zur offiziellen VP (Speisekarte: Banane, Brote), meine gefühlsbetonte und intuitiv denkende rechte Gehirnhälfte lockt mich an die Thüringer-Bude (Speisekarte: Leckere Thüringer Bratwurst). Ein fürchterlicher Zwiespalt, dessen Auflösung mich mindestens 30 Sekunden kostet. Schweren Herzens stopfe ich an der VP Bananen und Brote rein und laufe ganz schnell weg. Aber ich komme wieder!!! Das habe ich dann 4 Wochen später auch gemacht – daher die Fotos.

Das offizielle Profil suggeriert nun eine schöne ebene Strecke – die Wahrheit ist ein fieser Gegenhang von 70m Höhe bei km 27. Aber dann ist endlich ein bisschen Ruhe. Ich laufe eigentlich schon die ganze Zeit ohne große Mühe, aber VM holt Meter für Meter auf. Was ist hier eigentlich los?

Wie ich jetzt weiß, weicht die Strecke in diesem Bereich für etwa 2km vom originalen Rennsteig ab. Dadurch wird den Läufern eine extreme Passage erspart und die Kollision mit den 35km-Wanderern auf sehr engem Weg verhindert. Ab km 29 teilen wir uns dann den Rennsteig mit den Wanderern – das eine oder andere Überholmanöver ist nötig. Insgesamt muss ich sagen, dass mir die Wanderer sehr fair und anerkennend begegnen – die Meisten gehen die Strecke auch schon zum x-ten Mal und wissen genau, wie irre man sein muss, um freiwillig diese Hammerstrecke zu laufen. 35km wandern ist ehrlich gesagt auch schon ein ordentliches Brett! In früheren Jahren gab es im Rahmen des Rennsteiglaufs sogar eine 50km-Wanderung, die mittlerweile als eigenständige Veranstaltung im Herbst stattfindet.

Nach 31km erreicht man das Heuberghaus, eine 2010 komplett renovierte, sehr schöne Gaststätte mit Übernachtungsmöglichkeit. Hier fand 1975 der erwähnte legendäre Taschenlampenstart um 1 Uhr in der Nacht statt. Als es wieder in den Wald geht, fällt mir ein großes Plakat auf: „Keiner hat gesagt, es wird leicht. Aber Ihr schafft das!“ Besser hätte ich es auch nicht sagen können. Generell scheint dieser Bereich so etwas wie die Partymeile des Rennsteigs zu sein, denn gleich um die Ecke gibt es mit dem Spießberghaus und der Tanzbuche weitere gute Gaststätten mitten im Thüringer Wald.
Irgendwie kommt mir die Streckenführung hier etwas merkwürdig vor, denn es geht etwa 3km über Asphalt. Daran kann ich mich in Bezug auf 2012 überhaupt nicht erinnern. Den Grund für diese Umleitung sieht man aber links im Wald: Der ursprüngliche Weg, der hier ein schmaler Wurzelpfad ist, ist derart matschig, dass er kaum belaufbar ist. An der Verpflegung am Possenröder Kreuz bei km 33,6 fällt mir ein anderes Plakat auf, das mich irgendwie bis Schmiedefeld begleitet: „Wenn es leicht wäre, hieße es Fußball“. Ach ja richtig – heute Abend ist ja auch das Champions-League-Finale Dortmund vs. Bayern. Das muss ich natürlich unbedingt sehen – also beeile ich mich (äh – ich versuche es). Da vorne wartet auch endlich das Schild für km 35 auf mich. 35? Was mir gerade auffällt: Dieses Jahr gebe ich ja quasi mein Debüt in der Altersklasse M35 (Heeeul!). Na ja egal – ich hatte auch schon in der M30 die ersten grauen Fusseln an der Schläfe.

Nach einem saublöden Anstieg geht es zum Glück bergab auf die Ebertswiese bei km 37,5. Hier liegt auch die nächste Zeitnahme-Matte und piepst ca. 2.300 Mal am heutigen Tag. Hoffentlich verwirrt das nicht irgendwelche Singvögel oder andere in Bodennähe lebende Tiere. Die Zwischenbilanz bei Halbzeit in meinem Duell mit VM lautet wie folgt:

3:56:51h – 4:00:06h -> 3:15 Minuten Vorsprung

Da hat mir VM auf den vergangenen 19,5km etwa 3:30 Minuten abgenommen. Huch! War ich letztes Jahr so flott unterwegs? Das hatte ich mir einfacher vorgestellt. Einen Zug- und Bremsläufer könnte ich gerade gebrauchen, aber die gibt es hier natürlich nicht.

Die Ebertswiese ist ein sumpfartiges Naturschutzgebiet und eine der ganz wenigen Stellen auf der Strecke, wo man mal den Wald verlässt. Ganz ehrlich: Wenn man aus einiger Entfernung auf diesen Verpflegungsstand blickt und nicht weiß, dass hier eine Sportveranstaltung stattfindet – man würde eine Riesen-Grillfete, eine Kirmes oder einen Weihnachtsmarkt vermuten. Es sind gefühlte 6 oder 7 Grillhütten aufgebaut, in denen es wirklich alles an Getränken und Speisen gibt, die man sich bei einem Lauf vorstellen kann. Bananen, Äpfel, rechts- und linksdrehenden Haferschleim, Wurst, alle Sorten belegte Brote und so weiter. Ein Wahnsinn! Für die Organisation des „Büfetts“ ist an jedem Verpflegungspunkt ein anderer örtlicher Lauf- oder Wanderverein verantwortlich (meist sind es tatsächlich Wandervereine). Man hat als Läufer das Gefühl, die Vereine wollen sich alle gegenseitig überbieten. Auch in diesem Jahr gehe ich dem Haferschleim, dem DDR-Gegenentwurf zur Affenwurst, geschickt aus dem Weg.

Viele gönnen sich hier eine etwas ausführlichere Rast – ich mache mich nach ordnungsgemäßer Verpflegung aber schnell wieder vom Acker, denn im Duell mit meinem digitalisierten Alter Ego wird es immer knapper.

Direkt nach der Verpflegung geht es einen kleinen Anstieg hoch (wie immer nach einer Verpflegung) und dann bis km 41 relativ seicht dahin. Ich halte mich hier mit dem Tempo zurück, weil ich weiß, dass gleich ein derber Schlag in die Magengrube kommt. Bei der nächsten Getränkestelle an der Neuen Ausspanne bei km 40,8 noch schnell ein Gel rein gewürgt und mit Wasser runter gespült. Dann geht der Tanz so richtig los: Bei km 41,7 steigt die Strecke leicht an, biegt mit einer 90°-Linkskurve in den Wald und plötzlich stehe ich vor einer Steigung von gefühlten 70%. Moment – wo sind meine Steigeisen? Brauche ich vielleicht Sherpas? Bin ich gegen Yetis geimpft? Nee – das macht keinen Spaß. Also wieder wandern; aber das tun hier alle. Auf steilen, engen und steinigen Wegen geht es auf 3km etwa 160m in die Höhe (kommt mir vor wie 1.000m). Ich fühle mich hier gefangen wie in einem Hamsterrad: Ich gebe Alles – komme aber nicht so richtig vorwärts. Es scheint so, als fange ich inzwischen an zu halluzinieren: Der Berg redet mit mir – er lacht mich aus und faselt was von „Eat this!“.

Was eigentlich fast keiner registriert: Irgendwo während dieses trostlosen Anstiegs hat man seine 42,195 Marathon-Kilometer hinter sich, aber euphorisch ist hier keiner. Es gibt auch keine Streckenmarkierung – nichts. Wenn man will, kann man sich innerlich selbst feiern – aber wer macht das schon, wenn noch 30km zu absolvieren sind? Nach 44,6km bin ich endlich oben auf den Neuhöfer Wiesen. Als ich auf meine Uhr sehe, gefriert mir das Blut in den Adern: VM hat mich eingeholt! Das kann doch gar nicht wahr sein! Was mache ich eigentlich falsch heute? Das Ziel 7:59h habe ich mittlerweile längst begraben – ich will nur noch das Duell gewinnen, ansonsten beende ich meine Laufbahn und starte einen Gesprächskreis mit dem Thema „Laufen statt saufen“.

Nach dem Motto „Geschmeidigkeit kennt keine Grenzen“ beruhige ich mich wieder, bündele meine Synapsen und rede mir ein, dass ich das Duell am einfachsten ab km 55 entscheiden kann, weil ich vergangenes Jahr ab Oberhof viel gehen musste. 2012 hatte ich meinen Fans versprochen, spätestens um 12 Uhr am Grenzadler zu sein – es wurde genau 11:59 Uhr – dabei habe ich vermutlich (nein: sicher) überzogen. Trotzdem hatte ich es für dieses Jahr leichter erwartet.

Zum Glück geht es jetzt bis Oberhof recht seicht ohne große Anstiege zwischen 800m und 900m dahin. An manchen Stellen hat der Sturm Kyrill heftige Schneisen in den Thüringer Wald gezogen – sieht teilweise echt übel aus. An der Getränkestelle bei km 45,4 wird deftig gegrillt und es riecht intensiv nach Lagerfeuer. In meinem jetzigen Zustand irgendwie keine tolle Atmosphäre. Also schnell weiter.

Die in diesem Bereich unspektakuläre Strecke gibt mir die Gelegenheit, mich an unsere Urlaubswoche im Februar in Oberhof zu erinnern: Nachdem wir früher für Schneeurlaub grundsätzlich in die Alpen gefahren sind, haben wir es dieses Jahr tatsächlich in Oberhof versucht – übrigens auch eine Sache, die sich zu 100% mit meiner letztjährigen Teilnahme begründet. Anders wäre ich da nie drauf gekommen!

Was soll ich sagen: Bezüglich Schnee war es im Februar der absolute Jackpot – 90cm Schneedecke durchgängig. Natürlich hat Oberhof in 815m Höhe keine großen Alpin-Hänge, aber alleine der Rennsteig ist auf 140km für Ski-Langlauf präpariert. Und so haben wir uns in der Loipe, ausgehend vom Rondell (km 56) zwischen den Neuhöfer Wiesen (km 45) und der Schmücke (km 64) heftigst ausgetobt. Deshalb kenne ich die gerade vor mir liegende Strecke ganz gut.

Genau wie den Lauf, habe ich auch Oberhof als Urlaubsort komplett unterschätzt. Das gilt jedenfalls, wenn man auf Aktivurlaub steht. Der gerade Mal 1.600 Einwohner zählende Ort ist voll mit Sportstätten, die auch für Nicht-Spitzensportler zugänglich sind:

  • Bob- und Rodelbahn
  • Biathlon-Stadion am Grenzadler
  • Biathlon-Schießanlage
  • Skihalle am Grenzadler (ganzjährig (!) beschneite 2km lange Skihalle)
  • Skisprungschanzen am Kanzlersgrund (na gut – das besser nicht einfach so machen!)
  • 2km lange Naturrodelbahn am Rondell
  • Rennsteig-Thermen

Außerhalb des Winters kann man natürlich den Rennsteig für kurze, mittellange, lange, sehr lange oder extrem lange Wanderungen oder Radtouren benutzen. Das ist bezüglich der Organisation sehr einfach, denn der Weg ist ja durchgängig perfekt ausgewiesen und ist gespickt mit vielen urigen Gaststätten.

Das muss ich auch noch mal sagen: Der gemeine Thüringer ist ein sehr netter Mensch, in seiner Art ziemlich tiefen-entspannt und feiert und isst gerne. Letzteres merkt man nicht nur an den Verpflegungsständen und im Ziel in Schmiedefeld, sondern natürlich vor allem am Büfett im Hotel. Was ich schon immer superduper fand, ist die Tatsache, dass das Periodensystem der Elemente hier mit der Thüringer Bratwurst beginnt und auch lange nichts Anderes kommt. Wer zu wenig auf den Rippen hat, sollte ein paar Tage in Thüringen verweilen, dann geht’s schon wieder.

Alles aus?

Oh prima – da steht das Schild für 50 gelaufene Kilometer. Ich verzeichne einen ganz knappen Rückstand auf VM, aber das lässt sich ab Oberhof regeln. Und dann ….. passiert es: An einer völlig harmlosen Stelle bleibe ich irgendwie an einem in Laufrichtung liegenden Ast hängen. Ich kann gerade noch einen Sturz vermeiden (sah ziemlich artistisch aus), stelle aber mit Schrecken fest, dass mir das Scheißteil den Stoffbezug meines Schuhs aufgerissen hat:

Volltreffer!
Volltreffer!

Die Zeit hält an (leider nur gefühlt – auf meiner Uhr läuft sie natürlich weiter und VM nutzt dies, um ziemlich unsportlich wegzuziehen) und ich bin völlig perplex. War’s das? Rennsteiglauf 2013 beendet bei km 50,5? Das darf nicht sein!

Ein Blick auf meine Karte sagt, dass in nur 800m die nächste Verpflegung (Gustav-Freytag-Stein) folgt. Dort schleppe ich mich erst mal hin und dann sehen wir weiter. Mein Schuh ist zwar ziemlich luftig geworden, aber es lässt sich noch ganz gut laufen und meine Zehen sind auch noch einigermaßen erhalten geblieben. An der Verpflegung begutachte ich das Ganze und eins ist klar: Das ist der letzte Wettkampf für diesen Schlappen. Oh Mann – mit den Dingern bin ich den ersten Rennsteig gelaufen, zum ersten Mal 100km, Bestzeit beim Frankfurt-Marathon, usw. Wehmütig beschließe ich, ihn zu Hause zu reparieren und zumindest noch fürs Training zu nutzen. 140 Euro von einem billigen dahergekommenen Ast mutwillig zerstört!

Glücklicherweise habe ich Sicherheitsnadeln dabei und flicke das Ganze, so gut es geht. Dann noch pflichtbewusst ein Gel rein gewürgt, mit Wasser runter gespült, ein paar laute Flüche in die Landschaft gebrüllt und dann muss es weiter gehen. Wie ist eigentlich der Zwischenstand? VM hat die Lage unsportlich ausgenutzt und ist 1,8km weggezogen – das sind über 12 Minuten.

Aber eins ist klar: Dieses Malheur ist der Wendepunkt des Laufs. Ich bin so sauer und von Adrenalin voll gepumpt, dass ich zum Hulk werde und loslaufe wie ein Irrer. Es sind ja immerhin noch 22 km – da lässt sich mit eisernem Willen noch viel Zeit gutmachen und zu verlieren gibt es jetzt auch nichts mehr. Auf dem Weg runter nach Oberhof sinkt der Rückstand unter 1km – es geht doch! Am Grenzadler kann man nach 54,7km mit Wertung aussteigen. Aber bitte:

Wer macht denn so was!!??

Ein Spruch auf irgendeinem Laufshirt, das immer mal wieder in meiner Nähe auftaucht, sagt Alles: „Death before DNF“ (did not finish). Hier in Oberhof esse ich noch mal richtig ordentlich – zumindest das ist ein Fortschritt im Vergleich zu 2012. Da war mein Magen nach 50km in den Sperrmodus gegangen – zumindest für Bananen und Gel. Der Grenzadler ist übrigens kein Wachvogel aus DDR-Zeiten, sondern ein Grenzstein. Der Zwischenstand bei der von einer Schlammlawine halb überfluteten Zeitnahme am Grenzadler ist wie folgt:

6:09:04h – 5:59:22h -> 9:42 Minuten Rückstand

Hinter Oberhof kommt ein Berg (ach ja?). Nein, ganz ehrlich – das ist ein richtiger Berg im Sinne eines Kamelbuckels; nicht so ein Nadelstich. Irgendwie hat der gar keinen Namen, aber er hat mir 2012 komplett den Stecker gezogen. Dieses Jahr ziehe ich über diesen ?-Berg voll drüber und auf der anderen Seite genauso mit Vollgas wieder runter. Übrigens eine sehr schöne Abfahrt auf Langlaufskiern. Unten angekommen muss man am so genannten Rondell über diese äußerst lustige Brücke mit dem schrägen Geländer:

Brücke am Rondell (entgegen der Laufrichtung)
Brücke am Rondell (entgegen der Laufrichtung)

Als ich vergangenes Jahr nach 56km hier ankam (schon völlig im Delirium), dachte ich, dass man mir am Verpflegungsstand irgendwas zur Bewusstseins-Erweiterung in den Tee getan hätte. Aber nein – das Geländer ist wirklich so schief. Das Rondell ist übrigens ein Obelisk, der ein paar Meter von hier entfernt steht. Von hier startet auch die 2km lange Naturrodelbahn.

Aber nicht lange labern, sondern Gas geben! Und gemäß der Floskel „Nach dem Berg ist vor dem Berg“ geht es jetzt den zweiten Kamelbuckel hoch – etwa die gleiche Preisklasse wie der erste. Ich merke jetzt schon, dass ich später für dieses Tempo büßen werde. Aber was soll’s – ein Krampf ist auch nur ein Krampf. Nach dem zweiten Kamelbuckel kommt die nächste Verpflegung an der Sommerwiese bei km 56,8. Es sind nur noch 500m Rückstand – fast schon Sichtweite. Diese Verpflegung wurde vom Rondell hierher verlegt, weil man die Streckenführung des Halbmarathons verändert hat, um die Kapazität auf 7.500 Starter erhöhen zu können. Ach ja: Bis Oberhof hatten mich die 35km-Wanderer begleitet – während die jetzt Feierabend haben, teilen wir uns nun die Strecke mit den 17km-Wanderern und den Halbmarathonläufern. Während ich ein paar isotonische Getränke zu mir nehme, interviewt der Streckensprecher den kurz hinter mir laufenden Roland Winkler, dem Sieger von 1975 der damaligen 75km-Strecke. Er merkt mit Augenzwinkern an, dass die Strecke jedes Jahr länger würde und man die Berge stetig steiler kippen würde. Großen Respekt vor Jemandem, der den SM in 5:04h gelaufen ist und eine 100km-Bestzeit von unter 8 Stunden hat. Da wir uns gerade in SM befinden, nur mal kurz zur Info: SM bedeutet hier entweder „Landkreis Schmalkalden-Meiningen“ oder „Supermarathon“ – was denn sonst?

So – und nach der Sommerwiese wartet der finale und ultimative Anstieg hoch auf den Beerberg. In diesen Anstieg laufe ich jetzt rein, als wäre es ein 10km-Lauf. Irgendwann wird es sowieso zu steil, um zu laufen und dann kann ich mich beim Gehen wieder erholen. Wer den SM gewinnen will, muss spätestens hier bei km 60 antreten. Ich verringere den Rückstand auf VM auf 300m (also nicht mal mehr eine Stadionrunde). In der Mitte des Anstiegs liegt bei km 60,2 die Verpflegung an der Suhler Ausspanne. „Ausspanne“ meint hier übrigens diese lustigen Rasthütten, die es auf dem kompletten Rennsteig gibt. Die eine oder andere Schutzhütte wird auch Baude genannt.

Ausspanne an der Sommerwiese
Ausspanne an der Sommerwiese

An der Suhler Ausspanne kann ich mich an etwas Merkwürdiges vom letzten Jahr erinnern: Normalerweise bin ich ein absoluter Anti-Apfel-Esser (ja – es ist so). Aber 2012 war ich nach 60km so am Arsch, so leer, so alle, so was-weiß-ich-noch, dass ich hier angehalten habe und einen ganzen Haufen Apfelschnitzel gefuttert habe. Kann ich heute nicht mehr nachvollziehen. In diesem Jahr gönne ich mir eine Banane und ein gesponsertes Gel, denn nun kommt die fieseste Steigung von allen: Der Weg wird immer schmaler und steiler bis es oben mit Mühe noch zu gehen ist. Ich habe während des Skilanglaufs versucht, die Steilheit des Hangs zu fotografieren und ich muss zugeben, dass das nur bedingt gelungen ist. Wenn man auf dem Bild wieder den Baum mit dem Rennsteig-R als Referenz nimmt, kann man es ein wenig erahnen.

urop-anstieg-beerberg
Anstieg zum Großen Beerberg

Jedenfalls denke ich kurz darüber nach und mir fallen so gefühlte 10.000 Dinge ein, die mir gerade lieber wären, als dieser Anstieg. Ein paar Highlights:

  • Wurzelbehandlung beim Zahnarzt
  • Bratwurst mit Schlagsahne
  • Fußpilz

Deshalb laufe ich, so weit es geht und wandere den Rest bis oben. Mit Erstaunen stelle ich fest, dass hier tatsächlich noch Schneereste herumliegen. So kalt kommt mir das gar nicht vor. Oben mündet dieser Stichweg in einen relativ flachen, sehr breiten Hauptweg. Jetzt sind es nur noch etwa 20m Höhe bis zu Plänckner’s Aussicht, dem mit 973m höchsten Punkt des Laufs nach 61,7km und auch des gesamten Rennsteigs. Von Plänckner war ein Topograf, der im 19.Jahrhundert die erste Rennsteigwanderung machte und dabei diesen Höhenweg kartentechnisch erfasste. Den Gipfel des Beerbergs, dem mit 983m höchsten Punkt Thüringens, darf man leider nicht betreten, weil er in einem Biosphären-Reservat liegt. Die Luft ist ziemlich dünn hier, weil man als Hesse ja maximal die 950m der Wasserkuppe gewohnt ist.

Gleich hier um die Ecke haben die Ureinwohner Thüringens den zweithöchsten Berg des Landes konstruiert, den 978m hohen Schneekopf. Diesen Gipfel darf man ausnahmsweise auch betreten, was wir im Winter mit Skiern auch getan haben. Unser Eindruck war, dass er den Namen Schnee-Kopf zu Recht trägt, denn irgendwie war die Schneehöhe fühlbar größer als zum Beispiel noch auf Plänckner’s Aussicht. Aber wieso heißt dann die Wasserkuppe eigentlich Wasser-Kuppe? Irgendwie haben diese Berge alle eine merkwürdige namentliche Affinität zum H2O!

Chakka! Ich bin oben, es sind nur noch 200m Rückstand und es geht fast nur noch bergab. Die Laune steigt und ich kann jetzt richtig Gas geben. Herrlich – hier ist das Gefälle auch wirklich so, dass man schnell laufen kann (nicht wie z.B. am Inselsberg). Unten ein kleiner Gegenhang hoch zur Wetterstation an der Schmücke und dann ist es endlich so weit: Nach 63,5km habe ich VM wieder eingeholt – nur 12km, nachdem ich noch 1,8km Rückstand hatte. Hier geht es über die Straße und runter zur Schmücke. Was sich anhört, wie eine vernuschelte Abkürzung für Scheiß-Mücke, ist in Wirklichkeit eine kleine Siedlung mit diversen Gaststätten (gute Currywurst gibt’s hier).

Hier ist dann auch nach 64km die letzte Zeitnahme-Matte ausgelegt. Die piepst zwar gar nicht, spuckt aber folgendes Zwischenresultat aus:

7:32:05h – 7:32:23h -> 18 Sekunden Vorsprung

Das hört sich immer noch ziemlich eng an – ich bin mir aber sicher, dass ich das auf den letzten 9km deutlich ausbauen kann. Deshalb noch mal ordentlich verpflegt und ab geht es – Beine und Körper bilden eine rotierende Scheibe. Liest man die reinen Zahlen der Ergebnislisten, kann man zu dem Schluss kommen, dass ich ab hier ziemlich langsam ins Ziel getrudelt bin. Meine subjektive Wahrnehmung ist aber die, dass ich hier ein sehr hohes Tempo drauf habe. Ein Schnitt von 6 min/km fühlt sich nach 65km an, als durchbricht man gerade die Schallmauer.

Natürlich sind die Sieger längst im Ziel: Bei den Männern hat Christian Seiler in 5:10:25h mit Ansage und 17 Minuten Vorsprung gewonnen. Trotz des schlammigen Ambientes hat er seinen eigenen Streckenrekord nur um 5 Sekunden (!) verpasst. Tja – wäre er mal gegen sein digitalisiertes Alter Ego von 2012 gelaufen (also VS). Jedenfalls ist der 30-jährige Kollege, der eine Marathon-PB von 2:18h besitzt, im Moment in Deutschland praktisch nicht zu schlagen. Das könnte Einer sein, der in absehbarer Zeit 2:10h schafft. Bei den Mädels gewann in 6:15:45h mit Branka Hajek eine Läuferin, die 2012 Deutsche Vizemeisterin über 100km war. An dieser Stelle wird klar, dass die Distanz von 72km immer schon eine Sache war, die abwechselnd mal von Marathon-Läufern und mal von Ultraläufern gewonnen wird. Die Streckenrekorde von 5:10:20h (m) und 5:58:50h (w / Isabella Bernhard) blieben somit unangetastet.

Aber jetzt mit gefühltem Vollgas den Berg hinunter – das Schild nach 65km gibt noch mal einen Extra-Kick. Es folgt zwar wieder ein Wurzelweg wie bei km 18, aber wenn sowieso alles weh tut, ist das auch egal. Und dann, nach 68,2km verlässt man endgültig den Rennsteig. Als Highlight dieser allerletzten Verpflegungsstelle an den Kreuzwegen gibt es einen kleinen Schluck Schwarzbier. Mit Tempo geht es nur noch bergab ins Tal hinunter. Aber halt – da war ja was: Dieser saudoofe Hügel bei km 69. Die Meisten nennen ihn den „Heartbreak Hill“. Weil er so tierisch reinhaut, nenne ich ihn den Terence Hill. Ja – ich wollte ihn vergangenes Jahr eigentlich abreißen (lassen). Leider habe ich keine Genehmigung dafür erhalten.

Viel erfreulicher ist, dass ich hier schon 1km Vorsprung auf VM habe und da ich den Terence Hill letztes Jahr sowieso gehen musste (ich würde eher von kriechen reden), kann hier nicht mehr viel passieren. Weil hier alle gehen, bleibt Zeit für den ein oder anderen heroischen Smalltalk. Oben angekommen, werden noch mal die allerletzten Körner für den Zielspurt hervorgeholt. Herrlich – es geht leicht den Berg runter und unten hört man schon den Zielsprecher. Noch einmal über die Straße und schon ist man in Schmiedefeld. In dem gerade mal 2.000 Einwohner zählenden Wintersportort, in den heute 15.000 Sportler und was-weiß-ich-wie-viele Zuschauer einfallen, schlägt einem eine Herzlichkeit entgegen, wie ich sie nur schwer beschreiben kann. Dafür fehlt der Deutschen Sprache die vokabulare Bandbreite. Da ist er endlich – der Schmiedefelder Sportplatz. Ich biege in die Zielgasse ein und nehme das Tempo raus. Wer diesen Zieleinlauf nicht genießt, hat einen an der Erbse und muss mal zum Arzt! Da das Läuferfeld nach 73km natürlich sehr stark entzerrt und vereinzelt ist, die Letzten brauchen fast 13 Stunden, weiß ich: Dieser Applaus ist ganz eindeutig für mich! Das gibt es nirgendwo anders und so schwebe ich mit Gänsehaut nach

73,4 km in 8:34:03 Stunden

ins Ziel. Völlig entkräftet, aber überglücklich lege ich mich irgendwo an den Wegrand – mir ist gerade so was von scheißegal, dass ich die 7:59h bei Weitem nicht geschafft (dann halt nächstes Jahr) und das Duell gegen VM noch mit 14:44 Minuten Vorsprung gewonnen habe. Jetzt büße ich für den brutalen Endspurt ab Oberhof. Ein Feuerwerk an Krämpfen verhindert, dass ich überhaupt noch aufstehen kann und die Rückenschmerzen tun ihr Übriges dazu. Ich bin so was am Arsch, dass ich einfach liegen bleibe. Beim manchem Krampf ist mir gar nicht klar, zu welchem Muskel der gehören soll. Aber lustig ist nach einer solchen Strecke immer der Anblick der eigenen Waden – die zucken nämlich derartig darum, als würden sie sich aufpumpen wollen.

Wenn es so etwas wie Sportsgeist gibt, dann hier: Plötzlich steht ein Kollege neben mir, reicht mir einen Tee und muntert mich ein wenig auf, bis ich es nach gefühlten 2 Stunden wieder auf die Beine schaffe. Ich habe mir Deinen Namen nicht gemerkt, aber vielen Dank und großen Respekt!

Schmiedefeld – Ein Wahnsinn

Ein typischer Spruch des Rennsteiglaufs lautet „Wer in der Welt was auf sich hält, läuft von Eisenach nach Schmiedefeld“. Es ist kein bisschen übertrieben, wenn ich sage, dass ich noch nie so glückliche Läufer-Gesichter beim Zieleinlauf gesehen habe wie hier. Die Sportler sind nicht nur körperlich komplett fertig, sondern emotional völlig überwältigt. Es ist dieses Verlassen der normalen Welt in Eisenach, das Eintauchen in diesen leicht unheimlichen, aber schönen Wald und das Wiederauftauchen nach vielen Stunden in Schmiedefeld mitten auf einem Volksfest, bei dem alle auf Dich warten.

Also gehe ich Schritt für Schritt zur Gepäckwiese und ziehe mir trockene Klamotten an. Das tut gut jetzt! In diesem Jahr vergesse ich auch nicht schon wieder, mein Finisher-Shirt abzuholen. Auch wenn ich mich in einer Schlange 20 Minuten anstellen muss und es genau jetzt anfängt zu pissen. Scheißegal! Genauso egal sind mir die 7 Euro, die ich dafür bleche, dass meine Zeit auf die Medaille graviert wird.

Dann noch schnell den Gutschein für die Gemüsebrühe einlösen (lecker – das!) und schnell zum Bus. Huch – was ist hier los? Irgendwie zieht mich eine unheimliche Kraft nach rechts. Da! Da ist sie!! Da ist sie endlich!!! Die Bratwurst-Bude!!!! Sie zieht mich magisch an. Deshalb kratze ich die letzten Moneten zusammen und esse so 2 oder 3 oder 5 Thüringer Bratwürste. Oh Mann – für diesen kulinarischen Exzess hat es sich echt gelohnt – da kann es regnen, wie es will!

Jetzt wird aus dem Regen aber langsam ein Monsun. Diejenigen, die langsamer laufen, müssen auch noch zusätzlich leiden. Deshalb springe ich schnell in den Bus und bin der glücklichste Mensch weit und breit als ich endlich …. sitze. Der Regen prasselt auf den Bus, ich falle erschöpft in den Sitz und denke mir

Schee war’s!

Christian Meise

Christian Meise

3 Kommentare

  • Sascha Bertram

    24. April 2019 um 17:26

    Vielleicht liest ja der Verfasser dieses Berichtes meinen Kommentar! Also erst einmal 1000 Dank für den geilen Bericht! Er ist wirklich super geschrieben undicht hab dein Laufgefühl voll nachvollziehen können. Auch dein Entsetzen an der neuen Ausspanne und dem Grenzhügel. Wir stehen nach 4 x HM und 2 x M nun in diesem Jahr vor dem ersten SM! Mit dem Bericht warst Du auf jeden Fall Teil unserer Vorbereitung! Um es Kurz zu machen, läufst du dieses Jahr auch den SM mit? Wenn ja, dann komme am Abend vorher auf den Markt und suche im Umkreis von 10m um den Bierstand nach Sascha, dass bin ich! Ich muss dir für diesen Bericht ein BIER ausgeben!

    • Christian

      27. April 2019 um 12:12

      Servus,

      hier meldet sich der Verfasser! Vielen Dank für das positive Feedback –
      das geht runter wie Öl. Da ich mich in einer Comeback-Phase befinde,
      ist der SM dieses Jahr für die Verfassung des Verfassers noch 3 Nummern zu groß.

      Ich werde mich erst mal an den kleinen Dingen des Laufens versuchen, also konkret beim
      Mainhattan-Marathon die 2:11:30 Stunden für Olympia in Peking zu laufen.
      Danach wieder die großen Dinge wie der Rennsteig ;-)

      Das ist schön und richtig, dass ihr euch an diesem Bericht orientiert. Da steht
      zwar viel gequirlter Bullshit drin, aber von der Message her ist der Rennsteig GENAU SO !!!!
      Ein emotionaler Trip mit hohem sportlichen Anteil.

      Die Story ist mittlerweile ja schon 6 Jahre alt, aber inhaltlich absolut zeitlos.
      Seitdem haben sich Einige daran orientiert, aber dann trotzdem ins Klo gegriffen.

      Deshalb: Falls ihr zeitorientiert lauft, müsst ihr so lange wie möglich das Gehen vermeiden!
      Mit jedem km, den ihr früher anfangt, zu gehen, steigt die Zielzeit “exponentiell”.
      Und unterschätzt diesen Downhill vom Inselsberg nicht.

      Vielleicht kann der URoP-Kollege Markus mal ein Statement dazu abgeben, wie er
      diesen Monster-Run unter 7 Stunden geschafft hat.

      Ich würde für mich behaupten, dass die Zeit umso besser wird, je länger man durchläuft
      und je mehr Bumms man in den Oberschenkeln hat. Der beste Merksatz, den ich für diese
      73km jemals gehört habe, lautet:

      Erwarte den unerwarteten Anstieg!

      Aber ihr kennt die Strecke ja scheinbar. In diesem Sinne alles Gute und haut rein.
      Wir erwarten euer Feedback nach dem Lauf.

      Christian

      • Pamela

        3. Januar 2020 um 11:40

        Hallo Christian,

        ich habe noch nie einen so geilen, lebendigen und ehrlichen Laufbericht gelesen.
        Danke dafür!
        Ich stehe noch vor der Entscheidung “Soll ich wirklich?” und sauge sämtliche Berichte daher auf. :-)

        Ich wünsche dir noch alles Gute und viele tolle Läufe.

        Gruß
        Pamela

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