Die 100 Kilometer von Biel a.k.a.100.000 Steps of Doom

Achtung: Ich verfasse diesen Text leicht zynisch und definitiv ohne übertriebene Schönfärberei. Es könnte passieren,dass der ein oder andere Kraftausdruck entfleucht.
Es gibt keine eigenen Handyfotos, weil wir während des Laufs exakt eins angefertigt haben.
Ich werde keine Statistiken und Diagramme analysieren.
Vielleicht verlinke ich mein Garmin und Strava am Ende des Textes.
Dies ist übrigens ein etwas langer Text. Aber er muss ja lang sein, schließlich geht es um 100 Kilometer.

 

Und es begab sich…

Alles fing mal wieder mit einer Frage von meinem Freund Marco an.
Einer Suggestivfrage.
“Hübi [Christian], ich hab da eine Idee, wir könnten ja mal die 100 km von Biel laufen. Thomas ist auch dabei. Machst Du mit?”

Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass ich zu diesem Zeitpunkt stocknüchtern war und auch nicht unter dem Einfluss irgendwelcher Drogen stand. Und trotzdem aus mir unbekannten Gründen zugesagt habe.

Long story short:
Ausschreibung abgewartet, angemeldet, Hotelzimmer gebucht, die Sache weitestgehend verdrängt, zum Jahresende 2023 einen groben Trainingsplan aufgestellt. Meine Buddies lassen sich ohnehin von Markus Malz coachen, also geistige Notiz, bei ihm ebenfalls ins Coaching einzusteigen.
Marco wirbt noch Brigitta Huckestein und Karsten Gull an.

Da ich zu unstrukturiert für irgendwelche Trainingspläne bin und alle meine Lauftrainings bisher eher aus dem Bauch heraus mache, anstatt irgendwelche Kennzahlen zu analysieren (das mache ich in meinem Job schon genug), hänge ich mich einfach an Marco und Thomas dran – grob sieht das nach insgesamt 4 x Marathon , dem 36 km Pflatztraill und diversen gemeinsamen langen Traningsläufen aus. Zwei Paar neue Schuhe, ein neuer Laufrucksack und ein ziemlich überteuertes Paar Socken kaufe ich im Shoppingwahn. Hauptsache schon mal cool aussehen, das ist schon mal ein Teil der Miete. Beim Wrestling wird schließlich auch ordentlich gepost.

Die Vorbereitung endet eher unausgegoren:
Durch konsequentes Vermeiden von Fitnessstudio-Besuchen laufe ich mit 20% Körperfett aktuell in der Kategorie Chunky Runners.

Die Marathons in Split, Bienwald, Deutsche Weinstraße und Luxemburg werden souverän abgefrühstückt.

Der 36 km Pfalztrail läuft ein bisschen ungeil, aber ok.
Mitte April steige ich wieder in Körpertraining ein, in der Hoffnung zumindest was für den Rücken machen zu können.
Marco hat sich mittlerweile eine Infektion eingefangen und bricht während der Vorbereitung ein und geht letztlich auch nicht an den Start.
Brigitta wird leider auch nicht teilnehmen können
Ich habe vergessen, mich beim Coaching anzumelden, kapere Trainingspläne von Thomas und beschließe am Marathon Deutsche Weinstraße gemeinsam mit Markus, dass es sich jetzt auch nicht mehr lohnt, einzusteigen. Eine Woche vor dem Wettkampf habe ich die Hoffnung, dass weniger in diesem Fall einfach mehr ist.

Grüezi

Es geht los, das Gepäck ist gepackt – also der halbe Lauf-Hausstand und etwa 19000 kcal an Energie-Gels, Riegel und Supplements.
Wir fahren donnerstags los in die Schweiz.
Das fängt schon mal gut an. Beim Einkauf in Deutschland, um noch ein paar zusätzliche Tausend kcal günstig einzukaufen, finden wir erstmal eine vergessene Flasche Müller-Thurgau im Einkaufswagen – ein gutes Omen, wie ich finde.
Die Reise verläuft unspektakulär, das Hotel ist gut, das Städtchen Biel ist schön. Nur irritierend: Wir sind ja quasi direkt am Schweizer Jura. Die Leute hier sprechen entweder Deutsch, Schweizerdeutsch, Französisch oder eine Kombination aus allen dreien – wir sehen es als Gehirnjogging. Wir begutachten schon mal den Veranstaltungsort, die Tissot-Arena.
Hier wird fleißig aufgebaut, Startnummern gibt es erst freitags.
Wir treffen uns mit Claudia und Karsten und beladen uns zum Abendessen mit Pasta und versuchen unseren Schlafrhythmus etwas umzustellen.

Freitags beim Frühstück sind natürlich ein Großteil der Gäste ebenfalls Starter.
Man erkennt sie an Finisher-Shirts und Laufschuhen. Thomas und ich sind zivil unterwegs, eine wilde Mischung aus Casual Look und Flip-Flops. Die Gespräche am Nachbartisch sind schon wieder sehr sport-nerdig. nicht unbedingt mein Ding.
Wir vertreiben uns die Zeit mit ein bisschen Sightseeing Biel ist ein schönes Städtchen und auf einem Höhenzug befindet sich neben schönen Aussichtspunkten auch die Sportakademie der Schweiz, von dort hat man einen netten Blick auf den See und das Umland.
Wir packen dann unsere Sporttaschen und Dropbag und machen noch einen Powernap.
Um 18 Uhr machen wir uns auf dem Weg, auf dem Weg gibt’s noch eine Pizza zum Abendessen. Mit dem Bus ist es entspannt zum Start zu kommen, die Formalitäten sind in 3 MInuten erledigt und nun hocken bzw. liegen wir rum und warten, bis es endlich losgeht.

100000 steps of Doom

Als ob es nicht schon bekloppt genug wäre, 100 Kilometer laufen zu wollen, müssen wir das natürlich auch noch mitten in der Nacht machen.
Um 22 Uhr fällt der Startschuss und wir laufen durch das nächtliche Biel. Überall sind Leute auf der Straße und feuern uns an. Sehr schön! “Hophop, Bravo, Allez, Allez! Allez courage!”
Thomas und Karsten laufen meiner Meinung nach zu schnell. Die Pace ist auf meiner Uhr zwischen 6:00  und 6:05. Das wird ja was werden, geplant war schließlich 6:30 bis 6:45.
Ich versuche die beiden auszubremsen, was nicht unbedingt funktioniert.
Nach 3 km geht Thomas erstmal pinkeln.
Wir laufen nach Süden Richtung Brügg und laufen über ein Viadukt, angefeuert von kreischenden Schweizern und bimmelnden Kuhglocken. Das Viadukt geht in eine nicht mehr endende Steigung über, die Schweizer applaudieren weiter.

Die Steigung ist irgendwann fertig und wir laufen ins Dunkel der Schweizer Badlands,
Bei km 10 in den Vororten überholt uns der erste Staffelläufer. Das kann man hier auch machen  – 100 km in einer 5er-Staffel laufen, oder 100 km als 2er-Staffel zu je 50 km – falls man auf solche Dinge Lust hat.
Bei km 11 feuert uns Claudia an und schickt ein letztes Lebenszeichen in die Whatsapp-Chats.

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Wir schalten unsere Stirnlampen ein. Romantisiert blicken wir hinter uns auf eine Karawane aus kleinen Lichtern in der dunklen Sommernacht. Schön.
Bei km 13 muss ich dann auch endlich mal eine Bio-Break einlegen und versuche wieder zu Karsten und Thomas aufzuholen. Als ich die beiden erreiche, verschlucke ich eine Motte oder irgendein anderes Nachtinsekt. Die Sommernacht hat sich gerade entromantisiert. Plötzlich biegen wir von der asphaltierten Landstraße ab auf einen Kiesweg.

Na das wird ja was werden. Wir werden von Staffel-Läufern überholt. Karsten und Thomas beginnen, athletischen, fünfundzwanzigjährigen Staffel-Läuferinnen hinterherzulaufen.
Das ist ja prinzipiell auch eine meiner favorisierten Strategien, aber ich muss hier ja noch 85 km durch die Landschaft laufen, also ist Energiehaushalt angesagt. Die Sache hat sich ohnehin erledigt, weil bald die Wechselzone kommt. Wir laufen durch kleine Dörfchen, in denen Strassenparty angesagt ist.

Wie Berlin, New York City oder Luxemburg, nur viel kleiner.
Bei km 20 steigen die Radbegleitungen ein und das Chaos beginnt.
Die meisten Räder sind Gravel- oder Trekking-Bikes. Einige E-Bikes sind auch dabei, und vor Karsten fährt direkt eins in den Graben.
Wir hatten ja auch noch versucht Claudia zur Radbegleitung zu überreden, denn Thomas hatte eine Begleitperson gebucht und das Ticket dafür über, aber Claudia hat sich geziert.

Leider war auch nicht genug Zeit, hierbei größere Mengen Alkohol ins Spiel zu bringen, somit verfiel unsere Chance auf einen Einpeitscher.
Die Radbegleitungen haben zwei Effekte, die mir vorher gar nicht in den Sinn gekommen sind:
Vor uns zeigen sie mit Ihren Rücklichtern grob die Streckenführung in der Dunkelheit an. Das ist gut.
Leider sieht man so auch, wo man denn überall so hochlaufen muss. Das ist schlecht.
Karsten unterhält uns mit Episoden aus seinem Leben und eröffnet uns, dass er ab km 42 schneller laufen wird und versuchen will, seine PR zu erreichen.
Die Gegend wird einsamer, in den kleinen Dörfchens sind manchmal nur noch 2 oder 3 Leute draußen. – Current Mood: “Minutemen, eine weitere Siedlung benötigt unsere Hilfe!” (wie in Fallout 4)
Alle 5 km kommt eine Verpflegungsstelle. Ich stelle fest, dass ich gar nichts hätte mitnehmen müssen. Die Helfer, die Organisation und die Verpflegung sind tatsächlich überragend und haben hier schon ein großes Lob verdient.

Into Darkness

Irgendwo zwischen den Örtchen Grossaffoltern und Oberramsern, wo sich Igeli und Füchsli im wahrsten SInne des Wortes Gute Nacht sagen, laufe ich über die 42,195 km-Marke und beende quasi meinen 27. Marathon. Karsten verlässt uns wie angekündigt und läuft voraus. Ich bemerke, dass Thomas langsamer wird. Prinzipiell kommt mir das ja gelegen.
Er sagt, seine Leiste tue ihm weh. Das ist dann natürlich dann doch nicht so schön. Wir beschließen, etwas langsamer zu machen und den Schmerz rauszulaufen. Ich kann Thomas nun auch davon überzeugen, dass es effizienter ist, Steigungen einfach zügig zu gehen, statt hochzulaufen.
Wir verfluchen beide mittlerweile das Höhenprofil, dessen grafische Darstellung bei den Veranstaltungsinfos aufgrund der Länge der Strecke harmloser wirkt, als es tatsächlich ist.
Wir passieren die Marke von km 45 und ich stelle fest, dass ich so weit noch nie in meinem Leben gelaufen bin  – Current Mood: ich fühle mich wie Sam Gamdschie im ersten Teil von Herr der Ringe, als er an einem Punkt im Auenland feststellt, dass er noch nie so weit von zuhause weg war.
Irgendwie bin ich ja schon stolz, aber es liegen immer noch etliche Kilometer vor uns.

Current Mood: In Game of Thrones zieht Khaleesie Daenerys Targaryen mit ein paar abgerissenen Gestalten ziellos durch die Wüste von Essos nach Osten.

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Ein paar Kilometer später bei Etzelkofen gegen ca. 2:30 Uhr nachts kommen mehrere Dinge zusammen:
Nach einer Kurve geht es erstmal ordentlich den Berg hoch, Thomas´ Leiste hat sich in ein – wie es nannte – “drittes Ei” verwandelt und es beginnt zusätzlich noch leicht zu regnen. Ein Läufer, der mit uns die Straße hoch stapft, kommentiert das Ganze mit “Ein schöner Scheiss ist das!” und ich denke mir: Gottseidank hat endlich mal jemand den Mut, das auszusprechen.

Wir halten an der nächsten Straßenlaterne und verschicken einen Zwischenbericht an Marco und bedanken uns für die supertolle Idee, bei diesem Event hier mitzumachen
Der Regen hört schnell wieder auf und ich stelle mein Mindset darauf um, mich von einer Verpflegungsstelle zur nächsten zu hangeln. Denn Verpflegungsstellen bedeuten Cola, Essen, stehen oder zumindest entspanntes schlendern.
Ich kann die genaue Kilometerzahl nur schätzen – aber bei etwa 48 km spielt Thomas mit dem Gedanken, auszusteigen.  Ich weiss nicht mehr, wie ich genau darauf reagiert habe – ich denke, ich habe gemurmelt, dass ich das Ding definitiv zu Ende bringen werde, und das auch, wenn ich die Strecke gehen muss.
Scheinbar hat Ihn das so gepusht, dass er beschließt, das auch zu wollen. Jedenfalls betonte er das sehr.
Wir beschließen, uns auf die Verpflegungsstelle Kirchberg bei 55 km zu fokussieren: Hier wartet unsere Dropbag, mit einem zweiten Paar Schuhen und trockenen Laufshirts.
Leider haben wir uns vertan und die Verpflegungsstelle Kirchberg ist erst bei km 58.
Aber es wird höchste Zeit dafür: ich merke mit jedem Schritt, wie meine Füße mehr die Tendenz zum Krampfen aufweisen.
Wir kommen an und der Morgen beginnt zu dämmern.
Dankbar nehmen wir unsere Beutel entgegen. Schuhe und Trikot gewechselt, Laufrucksack eingepackt, Stirnlampe gegen Sonnenbrille und Käppi getauscht. Ich habe aus einer Laune heraus eine Dose Tiger-Balsam in den Beutel gepackt. Das Zeug wirkt Wunder auf meinen Knien und Oberschenkeln. Ein anderer Läufer kotzt in die Buchsbaumhecke, während wir Bouillon, Tee, Brot und Schokolade in uns reinstopfen.

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“Alles kurac” statt “Allez courage”

(Offtopic: da sicher nicht jeder weiss, was “Kurac” bedeutet, mein dezenter Hinweis als Gentleman: übersetzt es in Google translate mit kroatisch-deutsch, dann erschließt sich Euch alles.)

Also: “Nur” noch ein Marathon.
Voller Elan und Tatendrang gehen wir wieder auf die Strecke und müssen erstmal einen grandiosen Fehlstart hinlegen.
Mit kleinen Drippelschritten gewöhnen wir uns an unser Schuhwerk, während wir uns kaputtlachen. Aber Lachen tut aktuell ziemlich weh. Während ich noch mal meine Schuhe nachschüre, teilt Thomas seinem Coach per Voicemail Details zum Zwischenstand und seinem dritten Ei mit.
Wir stellen fest, dass wir quasi unter falschen Tatsachen zu diesem Event überredet wurden: Versprochen wurde uns ein Lauf, bei dem der Applaus der Zuschauer von Ort zu Ort tragen würde – aber die schlafen alle. Das ist ja auch noch nachvollziehbar. Schließlich ist Samstag
Wir sollen den Sonnenaufgang im Osten genießen, hieß es – da ist aktuell eine dräuende Wolkenfront.
Der Kurs führt uns zu allem Überfluss nach 500 Metern Industriegebiet auf einen geschotterten Spazierweg der sich gefühlt unendlich kerzengeradeaus an  einem kleinen Fluss entlang zieht. Der Untergrund ist echt shitty und definitiv nicht für unsere Schuhe geeignet. Wir verfallen alle paar hundert Meter in Gehpausen. Wir freuen uns über jede Kurve, in der Hoffnung, dass die Strecke angenehmer wird. Aber nichts. Dafür wieder unendlich  geradeaus, auf irgendeinem Hochwasserdammweg.
Nie war die Vokabel “Kurac” passender.
Bei Verpflegungsstelle  Kilometer 65 nehme ich das wohl widerlichste Frühstück meines Lebens zu mir: 3 Powerbar-Gels Espresso-Geschmack und Kakao-Cerealienriegel. Ein Helfer betreibt ein bisschen Smalltalk mit mir und bringt mits eienm Schweizerdeutsch meine angematschtes Gehirn an die Leistungsgrenze. Nochmal: Helfer, Organisation und Verpflegung sind top und großartig!
Die Radbegleitungen nerven uns. Die sind nahezu alle im Stealth-Modus, keiner kann offensichtlich klingeln, wenn sie überholen oder es vorhaben, Ein Radfahrer schleicht hinter uns her und traut sich nicht zu überholen. Wenn wir beide großzügig Platz machen, überholt er uns, um 100 Meter vor uns anzuhalten und auf seinen Läufer zu warten, den er abgehängt hat. Kurac.
Zorn wird unser Motor.
Wir werden vor einem Läufer mit Bienwald-Marathon-Shirt überholt. Der ist hier genau richtig, denken wir uns. Genauso eine öde Streckenführung wie im Bienwald. Wir laufen nur  auf irgendwelchen abgelegenen Bums-Wegen und Nebenstraßen. Das hat natürlich für den Organisator den Vorteil, dass sie wenig Aufwand beim Absperren haben, aber gleichzeitig ist es so ziemlich das unattraktivste an Strecke, was ich je gelaufen bin.
Kurac.
Wir erinnern uns an einen Tipp von Markus: “Wenn der Schmerz kommt, heißt ihn willkommen. Denkt an etwas, das nicht wehtut. Zum Beispiel den kleinen Finger.”
Viel zu esoterisch für uns, und offensichtlich sind wir dafür nicht masochistisch genug veranlagt.
Kurac.
Urplötzlich sind wir im Örtchen Biberist bei Verpflegungsstelle km 70. Es ist ca. 6:30 Uhr. Asphaltboden, wir sind happy. Thomas ruft Marco per Videocall an, er liegt im warmen Bett, hört sich unser Leid an und fühlt mit uns. Thomas lobt meine mir unbewusste Leistung als Motivator. Wir beschließen, irgendwann nach dem Lauf gemeinsam die Flasche Netto-Müller-Thurgau zu trinken.
Es kommt auch eine Antwort von Coach Markus, und er schlägt bezüglich des Dritten Eis vor, dass ich ja versuchen könne, es weg zu massieren.
Ich glaube aber eher, Markus hatte noch keinen vernünftigen Morgenkaffee, und da ich keinen Tiger Uppercut auf die Schnauze kassieren will, beschließe ich, das zu unterlassen.

Wir laufen tatsächlich wieder auf Asphalt und uns gelingt es, mit langsamer Pace wieder ins kontinuierliche Laufen zu kommen. An einer Spitzkehre steht eine sehr mitteilungsbedürftige Motorradfahrerin mit grün gefärbten Haaren und feuert uns frenetisch an. Thomas bedankt sich frenetisch zurück, was sie sich merken wird.
1 km weiter pinkelt die Radbegleitung, die uns ständig mit Überholen und Zurückfallen ohne Klingel nervt, ins Gebüsch. Ich überlege kurz, Ihm das Rad zu klauen, verwerfe den Gedanken aber wieder, bereue dies wiederum später wieder.

Meine Fitnessstudio-Vermeidung rächt sich. Ich habe Verspannungen und Schmerzen im Nacken und unteren Rücken. Meine Ellbogen werden taub, ich hätte dort Tiger-Balsam draufschmieren sollen. Ich versuche alle paar Meter ein paar Lockerungen durchzuführen.
Offtopic: Wenn Ihr Ultra laufen wollt, trainiert Oberkörper-Stabilität.

Es geht wieder eine Steigung hinauf. Ich erspähe in etwas Entfernung Verpflegungsstelle km 75. Von dort geht es kerzengerade eine Landstraße entlang. Thomas beschließt, von dort aus ohne Schuhe laufen zu wollen.
An der Verpflegungsstelle erkundigt er sich, ob von nun an nur noch Asphaltstrecke komme. Viele fragende, überforderte Gesichter. Eine Helferin meint:  ja, aber sie sei sich nicht sicher. Wir lassen die Schuhe an und laufen die Landstraße entlang. Die Sonne brutzelt mittlerweile kräftig am Morgenhimmel und wir freuen uns über den Schatten eines kleinen Waldstücks.
Da nun die letzte Halbmarathon-Marke in Sicht ist, beschließen wir einen groben Plan:
1 km gehen, etwa 3-4 km laufen, Steigungen gehen.
Der Plan kommt bei km 78 zu einem jähen Ende: Das halbe Dorf wird umgebaut und daher müssen wir eine Schotterstrasse den Berg hoch.
Jetzt bin ich es, der motiviert werden muss: Jeder Schritt tut weh. Ich beschließe, auf keinen Fall meine Schuhe auszuziehen. Wer weiss, was mich nach dem Ausziehen erwartet. Ich rechne mit einer Flutwelle Blut.

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Kein Ende in Sicht

Das letzte Stück wird zur Geduldsprobe. Es geht bergab durch ein kleines Dörfchen namens Arch  – so ähnlich fühlen wir uns übrigens. Irgendwo hier muss wohl die 2. Marathonmarke sein. Mein 28. Marathon. Meine Zählung geht im allgemeinen Rauschen unter.
Ich erinnere mich, dass die Streckenführung irgendwann an einer Bahnstrecke entlang nach Richtung Westen führt.
Aber Überraschung, nicht hier: Wir  werden wieder auf einen geschotterten Spazier-/Wirtschaftsweg geleitet, der einem Flüsschen folgt.
Kurac.
Zu allem Überfluss ist der Weg auch nur noch halb so breit.
Kurac.
Der Weg schlängelt sich am Fluss entlang, das Ufer können wir aufgrund der Vegetation nicht einsehen. Mit jeder Kurve steigt unsere Hoffnung auf eine stinknormale Straße.
Mit jeder Kurve wird sie enttäuscht.
Kurac.
Und unser Freund, die Stealth-Radbegleitung nervt wieder.
Kurac.
Wir lassen ihn vorbeifahren, irgendwie folgt ihm diesmal sein Zögling.
Bei ca. km 88 wird spontan der Weg zu einer kleinen gepflasterten Promenade und es kommt eine Verpflegungsstelle. Hier treffen wir nochmal die grünhaarige Motorradfahrerin. Sie kommt gleich zu uns. Thomas fragt, ob sie uns sagen kann, ob die Strecke von hier ab ausschließlich asphaltiert sei. Sie googelt ein bisschen auf dem Handy hin und her und meint, dass in 3 km die Wege besser und befestigter werden.
Mir schwant, dass das wohl eine Definitionssache ist.

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Wir laufen weiter und überqueren eine hübsche überdachte Straßenbrücke mit Holzüberbau. Nun geht es auf der anderen Seite am Fluss lang, auf einem asphaltierten Weg. Ein Fotograf macht Bilder von uns, wir geben uns kämpferisch. Der Asphalt wird zu Knochensteinen. Uns überholen zwei Läufer, einer hat ein logistisches Problem, da sein Auto in Weil am Rheins ethet, und er hofft, pünktlich für seinen Zug zu Bahnhof in Biel zum humpeln: Zu diesem Zeitpunkt meiner Meinung nach eine krude Mischung aus First World Problems und schlechter Planung. Wir haben grundlegende Probleme.
Die Knochensteine werden zu Asphalt. Endlich – Thomas zieht die Schuhe aus. Nach 100 Metern wird der Asphalt zum Schotterweg mit Pfützen. Kurac.

Thomas ist sauer.
Schuhe wieder an.

Es geht über Wirtschaftswege an Feldern und Pferdekoppeln entlang. Mein angematschtes Gehirn beschließt, allen Pferden zu winken und sie dabei “Pferdinand” zu rufen. Kein Pferd reagiert, keiner lacht.
Der Wirtschaftsweg wird zur asphaltierten Straße.
Zumindest 12 Meter lang, weil wir sie schräg überqueren. Es geht auf einem neuen Schotterweg nochmal den Berg hoch auf eine bewaldete Hügelkuppe. Wir laufen nun einen Forstweg entlang. Wir kommen zur Verpflegungsstelle km 95. Wieder ein Industriegebiet. Ein letztes mal Sportnahrung, nochmals aufs Dixi, und der Plan: 1 km laufen, Pace 8:00-8:30, dann 1 km gehen, immer im Wechsel. Victory-Jog ins Ziel.
Unser Plan endete nach 300 Metern. Nun geht es endlich nach Westen an der Bahnstrecke entlang, auf einem unbefestigten, welligen Forstweg.
Bei km 96 überholt uns ein Läufer aus der Türkei und fragt, wann wir die diese blöde Arena endlich sehen würden. Gute Frage, würden wir auch gerne wissen. Jeden km kommt ein Schild, das die Distanz zum Ziel runterzählt.
Bei km 99,2 kommen wir endlich auf eine asphaltierte Straße.
Wir überqueren eine Hauptstraße, an der Streckenposten dankenswerterweise den Verkeer regeln, sonst hätte es wohl einiges an platt gefahrenen Läufern gegeben. Wir laufen wieder. Wie in dem Film Hidalgo, nur umgekehrt.

Noch eine Kurve, und wir sehen die Arena.
Wir haben Fussschmerzen des Todes und beide definitiv keine Lust mehr.
Wir laufen um die letzte Kurve, durch den Zielbogen und über die Zielmatte. Geschafft.

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Back to reality

Nach 14:44:25 haben wir es geschafft.

100 km Laufen.

Achievement unlocked.

Überraschenderweise sind Claudia und Karsten im Zielbereich. Wir haben die Zielzone ein paar Minuten für uns und es ist surreal, dass der ganze Jubel uns gilt. Schließlich kommen nur alle paar Minuten ein paar Läufer ins Ziel
Von uns werden reichlich Fotos gemacht, die Fotografen haben schließlich Zeit. Karsten darf uns die Medaillen umhängen. Das offizielle Teilnahme-Goodie ist hier übrigens das Finisher-Shirt, auf dessen Rücken “100 km“ prangt.
Nun wird es nochmal witzig: Dazu muss man ein paar architektonische Merkmale der Tissot-Arena erwähnen: Die Arena besteht aus einer Eishockey-Halle und einem Fußballstadion, die beide auf einer Shopping-Mall platziert sind. Diese wiederum ist von einem stufenpyramiden-förmigen Treppen-Aussenbebauung umgeben. Das heißt, man kann von jeder Seite zu den Sportarenen gelangen, indem man die Pyramidentreppen hochsteigt.  Die Duschen sind natürlich oben in der Eishockeyhalle. Das heißt: Alle Läufer dürfen nun da hochsteigen.
Thomas macht das nicht elegant, aber zielstrebig. Ich warte noch ein bisschen und stärke mich noch etwas.
Treppensteigen klappt bei mir noch ziemlich super. Ich hole mein Gepäck und Claudia lotst mich dankenswerterweise zur Dusche. Unter der Dusche finde ich Thomas wieder, er hockt da rum, gemeinsam mit einem anderen Finisher. Er signalisiert mir, dass alles ok ist. Also machen wir uns in Ruhe frisch und treffen uns in der Zuschauerzone zwischen den Arenen.
Ich beschließe, zwei Bier zu trinken: Eins für den Durst, eins zum Geschmack. Die beiden Biere hauen übrigens ziemlich gut rein.
Danach brechen wir auf und kaufen in der Mall noch Schokolade und Mitbringsel. Claudia und Karsten werfen uns vorm Hotel ab. Das Thema Abendessen steht noch aus. Nach einem kurzen Nap humpeln wir mit Finisher-Shirts und Medaillen zum Supermarkt mit Foodcourt um die Ecke und landen im Thai-Imbiss. Das war einfach der kürzeste Weg. Ich kaufe mir noch ein Bier als Betthupferl. Auf dem Rückweg humpeln wir an schockierten Teenagern vorbei – die denken sicher zu Recht, wir hätten einen Knall. Nach ein paar Minuten Fernsehen schlafen wir erschöpft, aber glücklich ein und liegen wie Steine im Bett. Das Letzte, was ich höre, ist eine Technoparty am Seeufer, die im Regen untergeht.

Am nächsten Morgen wachen wir auf und sind einigermassen fit, bewegungsfähig, stolz und glücklich. PR beim 100 km Lauf! Oha!
Ich falle ich beim Frühstück auf wie ein bunter Hund. ich trage fast als einziger die Medaille, aber kein Finisher-Shirt.
Die Gespräche hier sind seltsam: “Wir sind schon zum 5. mal hier..”, “Das war so toll, nächstes Jahr komme ich wieder…”
Ich komme zu dem Schluss, dass diese Veranstaltung hier wohl eine Sache für Masochisten ist. Ich glaube Thomas ist kurz davor denen sein drittes Ei zu zeigen.

Wir packen unsere Sachen und machen uns auf den Heimweg.
Ich habe mir vorausschauend mal noch den Montag frei genommen und mit eine 90-Minuten-Sitzung Thai-Massage gebucht.
Meine Nicht-Laufenden-Freude sind begeistert.
Als ich am Dienstag zur Arbeit komme (ich bin sogar hin geradelt), feiert mich meine Kollegin hart, sie hat sporadisch das Livetracking verfolgt. Die Chefin der Nachbarabteilung begrüßt mich mit “Christian,mein Held” – das hat aber eher damit zu tun, dass ich ein paar Service-Tickets eröffnen soll, als mit 100 km laufen.
Jetzt ist erstmal off-Season angesagt.
Die Termine hierfür sind gottseidank schon durchgetaktet. Also Cheers.

Ich möchte allen, die bis hierhin gelesen haben, danken.
Ich möchte auch allen Danken, die uns angefeuert, unterstützt, mitgefiebert und sich mit uns gefreut haben (wir haben uns stellenweise definitiv nicht gefreut).
Auch wenn ich persönlich nur wenig Nutzen daraus ziehen konnte –  Danke für Tipps und Rat an Brigitta Huckestein, Markus Malz und Gerhard Raithel.
Danke an Thomas Wagner und Karsten Gull fürs Mitlaufen.
Danke an Claudia Gull fürs Betüddeln vor Ort.
Danke an Marco Voll für diese absolut überragende Idee.

Es war definitiv eine Grenzerfahrung.
Mit einer ziemlich hohen Wahrscheinlichkeit werde ich das nicht wiederholen.

Christian Hübinger

Christian Hübinger

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