Traildorado – die 24 Stunden Trailrunning Party – und endlich mal wieder 100 km

Mist, wo sind die Schuhe? DIE Schuhe…denn andere gehen für DEN Lauf gar nicht. Zuletzt hatte ich sie vor 4 Monaten an der Zugspitze an, ich habe sie doch hoffentlich nicht im Hotel gelassen? Oh man, noch mehr Arbeit, noch mehr Mails. Die müssen unbedingt vor dem Lauf beantwortet werden. Ich raffe potentielle Ersatzschuhe, dünne, dickere und vollkommen überflüssige Laufklamotten in eine Klappkiste. Der Krankenbesuch in Stuttgart passt zeitlich wirklich Null, aber wann passt so etwas schon? Blasenpflaster, Salztabletten und ein paar Getränkeflaschen fliegen in eine Tasche. WhatsApp an Papa: Ich komme später. Gott sei Dank, da sind die Schuhe. Was für eine Woche! Seufz.

Ich bin auf dem Weg ins Sauerland. Keine Ahnung, was ich alles vergessen habe. Meine Gedanken sind überall, nur nicht bei dem Lauf. Erstmal geht es „nach Hause“, dem besten Papa der Welt noch etwas helfen. Keine Zeit zum Vorbereiten oder Ausruhen. Wir erzählen noch bis spät in den Abend.

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Es ist Nacht. Die letzte Dienstmail ist draußen. Mechanisch und müde wiege ich Isomaltulose in Getränkeflaschen, koche ein paar Kartoffeln, mixe sie mit Salz und Kokosöl. Tatsächlich ist der Magen bei Ultraläufern statistisch der häufigste Grund für einen Rennabbruch. Morgen soll es nach Jahren wieder ein richtig langer Lauf werden, da will ich nichts riskieren. Die Nacht ist kurz. Der Rewe öffnet schon früh. Ich brauche noch Ersatz-Batterien für die Stirnlampe, Ersatz für das völlig ausgeleierte Haargummi und eine Packung Fishermanns Friends. Es ist eiskalt am Morgen, ich muss kratzen. Mir wird klar, dass es eine ganz miese Idee ist, meine noch immer ziemlich unsortierte Klamotten-Kiste einfach an den Streckenrand zu stellen. Da würde nachts alles nass und klamm werden. Ein paar Müllbeutel als Nässeschutz wandern mit ins Auto. Schnell wird noch die Tatzen-Marathon-Startnummer ausgedruckt, die muss mit auf die Strecke. Für einen Farbwechsel am Drucker reicht die Zeit leider nicht mehr.

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Auf der kurzen Fahrt nach Arnsberg ist endlich Luft für Vorfreude. Traildorado, ich komme! We like to move it, move it! Auf dem nahe gelegenen Parkplatz erwische ich den letzten freien Platz. Wenigstens nicht so weit laufen mit meinem ganzen Krams. Dieses Jahr habe ich erstmals ein Bett im „Traildorado-Schlösschen“, dem SGV Jugenhof, der an diesem Wochenende komplett den Teilnehmern gehört. Meine Mitbewohnerinnen sind schon im Zimmer, wir beziehen die Betten, sprechen über unsere Ziele. Beim Traildorado sind die breit gespreizt, von ein paar Runden Wandern bis Laufen am Limit ist alles dabei. Wozu habe ich mir Gedanken um Wechselkleidung an der Strecke gemacht? Hier im Zimmer ist alles perfekt aufgehoben es sind ja wirklich nur ein paar Schritte bis zur Laufstrecke. Aber etwas sortieren muss ich schon noch, schließlich will ich nicht wühlen, wenn andere hier schlafen. Blasenpflaster, Stöcke, Stirnlampe… gehen ins Pausenzelt an der Strecke. Die will ich greifbar haben. Und die Eigenverpflegung. Zu groß die Sorge, an diesem Traumbuffet mit Rumkugel, veganen Brownies und Gummibärchen zu früh meinen Magen zu überlasten, wenn ich direkt dort strande.

Das Briefing für die 300 Teilnehmern hat schon begonnen, als ich noch eine Bank mit meinen Sachen bestücke. Ich kenne das Procedere ja, höre nur mit halbem Ohr hin… und halte geschockt inne: Michele überbringt die traurige Nachricht, dass Andy Jones, fester Bestandteil des Musikprogramms und Schreiber der Traildorado Hymne vor ein paar Tagen an einem Herzinfarkt verstorben ist. Letztes Jahr hatte das Lied Premiere, doch „back here next year“ hat sich für ihn nicht erfüllt. Er wird uns fehlen am Lagerfeuer…

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Carpe Diem – Wer weiß, was die Zukunft bringt? Ich frage mich, ob ich je wieder die Chance haben werde, 100 km zu laufen, wenn ich es heute nicht tue. Aber schafft man 100 km auch, wenn man nicht wild entschlossen ist? Meine mentale Vorbereitung war irgendwo zwischen nicht vorhanden und unterirdisch. Kurz hatte ich sogar überlegt, den Lauf aus Zeitgründen ganz abzusagen. Immerhin weiß ich, 100 km sind 25 Runden. 25 mal entscheiden: Party oder Pace? Lagerfeuer oder Laufen?

Startlinien haben Zauberkräfte. Bäääm!! Mit dem Überschreiten ist alle Hektik, aller Stress einfach weg. Ich atme die Waldluft, genieße den Blick auf die Hügel, ruhe tief in mir. Du strahlst ja so! sagt die Streckenfotografin. Ich hatte sie noch gar nicht bemerkt, so versunken war ich in Gedanken. Neben mir läuft Hans – die personifizierte Erinnerung an Wendepunkte meiner Laufgeschichte. Kennen gelernt haben wir uns 2015 am Bahnhof in Bottrop. Zwei Menschen in Laufklamotten konnten nur ein Ziel haben – den Herbstwaldlauf. Fast 50 km bleiben wir zusammen, freuen uns gemeinsam über meinen allerersten Ultra, der gleich ganz oben auf dem AK Siegertreppchen endet.

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Doch es gab nicht nur Höhepunkte. Meine dritten Hunderter wollte ich bei der TourTour de Ruhr laufen. Eine Crew ist verpflichtend, Hans mein Fahrradbegleiter. Zu blöd, dass mich kurz vorher ein grippaler Infekt erwischte. Es war klar, dass noch Kraft fehlt, aber die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt. Bei km 58 km siegte die Vernunft, DNF, fest davon ausgehend, dass sich bald ein anderer 100er finden würde.

Das war 2018. Doch ein Problem jagte das nächste, Unfälle und zahlreiche Corona-Laufabsagen inklusive. Heute nun die Chance, endlich wieder 100 km anzugehen. Irgendwie passt es, das Hans heute mit hier ist. Allerdings wird er sich früher verabschieden. Für ihn ist das Training für seinen mehrtägigen Etappenlauf in Namibia. Es ist immer wieder spannend, wenn er von seinen krassen Läufen und neuen Träumen und Plänen erzählt.

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Nur abschnittsweise gibt es danach noch Gespräche mit anderen Läufern, meist bin ich alleine unterwegs. Ich staune, wie sehr die früh einsetzende Dunkelheit mich bremst. Nach mehreren Runden kennt man ja die meisten Wurzeln schon mit Namen, aber im Licht der Stirnlampe ist die Trittsicherheit doch nicht die gleiche. Ich will definitiv nichts riskieren. Zeitlich habe ich für 100 km viel, sehr viel Luft. Runde um Runde wird es jetzt einsamer. Viele Läufer gehen zu den Vorträgen, schlafen oder haben ihren Lauf schon beendet. Angst habe ich nicht, ich weiß: Ich bin nicht allein im dunklen Wald. Immer wieder kommt jemand vorbeigeschossen. Die Sauerländer Laufraketen, die Sieger-Staffel, gehen hier an ihr Limit. Sagenhafte 270 km mit 8600 Höhenmeter kommen bei ihnen dieses Mal zusammen, ihr Streckenrekord liegt noch höher.

Die nächste Runde. Traildorado-Organisator ist Michele Ufer, der bekannte Sportpsychologe und Buchautor. Ich bin mir sicher: Er hat die Strecke genau durchdacht: Die 4,1 km lange Runde beginnt flach und einladend, erst hinter der Kurve geht es heftig aufwärts. Irgendwo müssen die 130 Höhenmeter pro Runde ja stecken. Es folgt ein sanfteres Stück, dann geht es nochmals bergauf. Der „unbekannte Motivator“ wartet mehrfach an Strecke, strahlt mich an, wenn ich komme, freut sich, wenn ich zurück lächle. Flowige Downhills folgen. Der Rundenzähler hat coole Sprüche auf Lager – gendergerecht, rechts weibliche, links männliche Stimme – und motiviert zur nächsten Runde. Mit Blick auf den flachen Streckenbeginn ist dann schon vergessen, wie anstrengend es bergauf mit müden Beinen war, man startet erneut. Die Pussy-Lane bietet eine flachere Alternative für die Steigung, nur sind dann am Ende mehr Meter mehr auf der Uhr als auf der Urkunde.

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Eigentlich wollte ich die Runden durch eine Schlafpause etwa hälftig teilen. Aber es läuft zu gut und ich finde noch kein Ende. Die erwartete Müdigkeit setzt nicht ein. Vorne an der Ecke steht Karl-Heinz Duda mit seiner Gitarre und singt. Manchmal auch mitten im Wald irgendwo. Diese musikuntermalten Abschnitte sind immer ein Highlight.

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Nach einer extra-langsamen Gute Nacht Runde begebe ich mich dann doch ins Bett. 16 Runden und gut 65 km liegen hinter mir. Die heiße Dusche und die frischen Klamotten tun gut. Aber ich bekomme schlicht kein Auge zu. Was ist, wenn ich verschlafe? Schlicht zu spät aufwache, um die 100 km noch zu Ende zu laufen? Außerdem schmerzen meine Fußsohlen. Das Sauerland ist steiniger als der Pfälzer Wald. Auch in den andren Betten wälzt man sich schlaflos hin und her.

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Vier Stunden später, lange vor dem Wecker, stehe ich wieder an der Startlinie. Jetzt bin ich froh über die Wechselschuhe. Die gedämpften Altra Lone Pike kommen mir wie sanfte Kuschelkissen im Vergleich zu den Salomon SLab vor. Ich drehe zwei weitere Runden, bin unentschlossen. Warum laufe ich jetzt in der Dunkelheit? Wenn ich aufs Tageslicht warte, bin ich viel schneller. Ich schwatze mit ein paar Staffelläufern, die im Zelt auf ihren Einsatz warten. Mache noch zwei Runden und lande am Lagerfeuer. Dort kümmere ich mich jetzt erst mal um die Leckereien des mehr als perfekten Buffets. Und nach der nächsten Runde auch wieder. Hey, etwas Party muss sein. Bei 24 Stunden ist genug Zeit. Und so schlecht, dass ich den Rest nicht mehr schaffe, kann mir so schnell auch nicht mehr werden.

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Im Wohlfühltempo schlappe ich die letzten Runden zusammen. Es gibt keinen Grund für Hektik. Ich will nur noch genießen, den Sonnenaufgang bewundern. Wahrnehmen, wie sich die Strecke in den letzten Stunden verändert hat. Viele Wurzeln glänzen, glatt poliert von hunderten von Tritten. Der Weg über die Wiese ist zu einem breiten Matschstreifen geworden. Einige Pfützen sind geradezu leer getreten. Die Fotografin ist auch wieder da. „Du stahlst ja immer noch!“ Na klar! Es ist meine letzte Runde. Mit Spaß und ohne großen Kampf zeigt mir die Uhr die dreistellige Kilometerzahl. 100 km langsam und mit Pause sind doch deutlich entspannter als am Stück. Es wäre noch etwas Rest-Zeit für weitere Runden, aber, der Schokoladenbrunnen wird gleich aufgebaut. Den habe ich mir verdient! Mit Musik und Gesprächen am Lagerfeuer endet mein Traildorado 2021.

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Ein paar Daten:

100 km – Läufe

  • 2016: 100 km Biel in 11:47
  • 2017: 100 km Taubertal in 11:34
  • 2018: DNF (km 58) beim Bambinilauf TourTour de Ruhr
  • 2020/2021: Corona-Absagen gemeldeter 100 km-Läufe.
  • 2021: 102 km / 3200 HM Traildorado in 22:17 (Strava-Laufzeit 17:07)

Traildorado-Teilnahmen:

  • 2019: 20,55 km/ 650 HM +Vortrag halten
  • 2020: 57,54 km/1820 HM
  • 2021: 102,75 km/3250 HM

Fazit 1:
Traildorado geht immer, ob mit Knöchelbruch (Gehen, in Absprache mit dem Doc. Besser, als zu Hause Trübsal blasen) oder um ein verpasstes Jahresziel nachzuholen.

Fazit 2:
Laufen ist Leben und ein langer Ultra immer auch eine Traumreise: Zu erfüllten Träumen, deren positive Energie und Emotionen wieder lebendig werden. Zu neuen Zielen und Träumen. Es liegt an uns, sie wahr werden zu lassen.

„Du weißt genau, dass irgendwann einmal ein Wunder geschehen kann! Versuchen wir es wieder, solang man Träume noch leben kann!“ Münchener Freiheit, irgendwann in den 80er Jahren.

(Photocredit für Lauffotos: Svenja Schrade)

Brigitta Huckestein

Brigitta Huckestein

Mein Herz schlägt Marathon (seit 2013) und Ultratrail (seit 2016). Wenns nicht so läuft, freue ich mich auch über 3 km-Läufe. Seit 2019 ergänze ich durch swim & bike (bis MD).

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