Irgendwann musst du nach Schmiedefeld

18. Oktober 2021von Christian Meise1

Viel zu spät komme ich an diesem Freitagabend in Eisenach an. Es reicht gerade noch, um meine Startnummer für den Rennsteig Supermarathon ’21 im Bürocontainer auf dem Marktplatz abzuholen. Völlig abgeschafft und komplett unterzuckert erreiche ich dort mit letzter Kraft den Bratwurst-Grill: Dort retten mir zwei extrem leckere Thüringer Bratwürste das Wochenende und sorgen endlich dafür, dass ich wieder klar denken kann.

Nachdem ich wieder in der Lage bin, Subjekt, Prädikat und Objekt in eine sinnvolle Reihenfolge zu bringen, streife ich noch ein wenig auf dem Marktplatz umher, wo an diesem Wochenende wieder die Wartburg Rallye stattfindet. Dementsprechend laut geht es hier zu und ich staune, zu welchen Raketen man einen Trabi doch aufmotzen kann!

Obwohl ich nach 2012, 2013 und 2014 nun seit 7 Jahren nicht mehr hier angetreten bin und auch nicht mehr in Eisenach war, kommt mir alles vor, als wäre das gestern gewesen. Ich hatte mir immer wieder vorgenommen, diese 72,7km bzw. nun 73,9km wieder anzugehen, aber wie sagt schon der Volksmund: Der gute Vorsatz ist ein Gaul, der oft gesattelt, aber selten geritten wird!

Die Erlebnisse von 2013 hatte ich unter dem Titel “Krämpfe sind auch nur Krämpfe” zusammengefasst und die Story von damals steht natürlich nach wie vor in der Leseecke zur Verfügung.

Art und Umfang der Feedbacks zur 2013er-Story ließen darauf schließen, dass nicht wenigen Marathonläufern Fragen vom Typ “Soll ich das tatsächlich machen?” oder “Schaffe ich das?” durch den Kopf geistern. Also die gleichen Dinge, die ich mich damals logischerweise auch gefragt hatte. Am Ende dieser neuen Story sind diese Fragen eindeutig beantwortet!

Nach der Pandemie-bedingten Absage 2020 wurde dieses Jahr intelligenterweise die 48. Auflage des Rennsteiglaufs auf dieses Oktober-Wochenende gelegt, um Zeit zu gewinnen und Planungssicherheit zu haben. Dafür musste zwar der Rennsteig-Herbstlauf weichen und der klassische Rennsteiglauf auf 2 Tage ausgedehnt werden, aber das war definitiv die richtige Entscheidung!

Eigentlich wollte ich mich an diesem Freitagabend noch mit Karsten treffen, aber mein amateurhaftes Zeitmanagement stand dem entgegen. So düse ich reichlich spät am Abend rüber nach Osthessen in die alte Heimat, wo ich 2 Übernachtungen mit Vollpension und unbegrenzten Zwischenmahlzeiten gebucht habe.

Als ich das Auto abstelle, kommt aber noch nicht mal die Katze an und bettelt um ihr Abendessen. Ein klares Zeichen, dass ich zu lange nicht mehr hier war und als Futterorganisator nicht mehr ernst genommen werde.

Unter dem bekannten Motto “Die Zahlen müssen stimmen” messe ich, um ganz sicher zu gehen, am Abend auch nochmal die Höhe meiner Schuhsohlen – aber das passt!

Genau um 3:45 Uhr weckt mich eine Reihenschaltung von 5 Handys, Smartphones und Armbanduhren und ich feiere diesen ersten Sieg des Tages, nämlich nicht zu verschlafen, wie eine neue PB über 10km. Ist halt doof, wenn man auch nur an einem einzigen Weckelement vergisst, den Alarm wieder rauszunehmen. Die Strafe dafür folgt exakt 24 Stunden später…

Erstaunlich gut ausgeschlafen nehme ich ein kleines Frühstück ein und schütte mir eine Tasse Kaffee in die Figur. Die Sorge vor Frost ist übrigens völlig unbegründet – es sind um 5 Uhr am Morgen sagenhafte 12°C. Natürlich ist es im Vergleich zum normalen Veranstaltungstermin im Mai länger dunkel. Dementsprechend erfolgt der Start um 6:30 Uhr anstatt um 6 Uhr und es wird den frühen Startern empfohlen, eine Stirn- oder Taschenlampe dabei zu haben.

Das Startprozedere wird pandemie-bedingt nicht als Massenstart, sondern als Blockstart zu je 50 Läufern durchgeführt. Na gut, in der Managementsprache natürlich nicht Blockstart, sondern Clusterstart oder so was. Aber der Zeitabstand von 1,5 Minuten erinnert mich irgendwie schon wieder an Corona.

Es dauert eine ganze Weile, bis ich Karsten finde – die offiziellen Rennsteig-Shirts sehen unseren Runners-Shirts farblich verblüffend ähnlich. Wir stellen fest, dass ich satte 21 Minuten nach ihm loslaufen darf. Na ja – egal.

Nicht, dass wir damit etwas zu tun hätten, aber dieses Jahr gibt es wegen des Clusterstarts einen interessanten Transformationsprozess bezüglich der Siegerzeit: Der Sieger definiert sich nicht automatisch anhand der Reihenfolge des Zieleinlaufs, sondern anhand der Nettozeit. Das bedeutet konkret: Man kann den Supermarathon relativ “unbemerkt” aus einem der hinteren Startcluster gewinnen. Dies sollte am Sonntag beim Halbmarathon der Damen der Fall sein. Der eine oder andere absurde Überholvorgang beim Supermarathon hoch auf den Inselsberg ließ mich vermuten, dass durchaus versucht wurde, den Nettozeittrick anzuwenden.

Um genau 6:30 Uhr geht es dann eeeeeeeeendlich los und ein Mega-Applaus begleitet die ersten Läufer. Man merkt deutlich, dass für die Meisten fast 1,5 Jahre Wettkampfpause vorbei gehen und die ACDC – Hells Bells – Gänsehaut breitet sich auf dem Marktplatz aus. Bei mir sind seit dem Frankfurt Marathon 2019 genau 706 Tage vergangen – also viel zu viel. Außerdem hatte ich noch das “Händchen”, beim 30km langen Wintersteinlauf am 15. März 2020 in Friedberg starten zu wollen. Daraus wurde dann das erste echte Lockdown-Wochenende. Dieses “Händchen” konnte ich danach beim Lotto nie reproduzieren und habe konsequenterweise damit aufgehört.

Karsten startet also in Cluster 2 und ich eben 21 Minuten später in Cluster 7. Da es noch nicht wirklich hell ist und das eine oder andere Schlagloch die Strecke hier zu einem Jump & Run Game macht, ist der erste Kilometer mit vielen kleinen Lichtern gut ausgeleuchtet. Zusätzlich haben einige nette Helfer ihre Autos an die Strecke gestellt und sorgen somit für ausreichend Licht.

Der Runners-Rekord von Markus über den Supermarathon – stramme 6:57 Stunden von 2016 – ist für uns (und vermutlich für alle anderen Runners für die nächsten 10.000 Jahre) natürlich völlig außer Reichweite. Immerhin können wir beide gefinishte 100km-Läufe vorweisen und sind uns sicher, die Strecke solide zu schaffen.

Auf dem Anstieg(chen) hoch zur Hohen Sonne frage ich mich, wo (und warum) man die 1,7km Zusatzstrecke dran gebastelt hat, die aus dem 72,7km langen Supermarathon quasi einen 73,9km Superplusmarathon machen.

Meine 3 Supermarathons von 2012-14 haben mir gezeigt, dass “Pace” ein recht überflüssiges Datenfeld an der GPS-Uhr für diesen Lauf ist – dementsprechend prangern da dieses Jahr nur Distanz und Höhe. Insgesamt sind in diesem Jahr 1352 Läufer für die lange Strecke gemeldet – im Gegensatz zu den üblichen etwa 2000 Startern in normalen Jahren. Davon werden 903 das Ziel in Schmiedefeld erreichen. Was sich erstmal wenig anhört, ist in Wirklichkeit eine sehr große Anzahl an Sportlern, die während der Pandemie-Zeit mit voller Überzeugung daran geglaubt haben, dass der Rennsteig tatsächlich stattfindet. Man erkennt aber an dieser, für den Rennsteig unüblich großen Differenz, dass 2021 kein normales Sportjahr ist – was aber auch gar nicht sein kann, wenn 2021 die “Olympischen Spiele 2020” stattfinden.

Ich kann von mir selbst sagen, dass die langen Läufe über 40 bis 50km mental äußerst schwer (und noch viel schwerer als sonst) sind, wenn man keine 100%ige Planungssicherheit hat. Mich hat die sehr frühe Absage des Frankfurt-Marathon dann doch überrascht. Deshalb Hut ab vor allen Motivationskünstlern, die es an die Startlinie geschafft haben! Nimmt man alle Strecken zusammen, starten an diesem Wochenende dann doch 9347 Läufer.

Nach 7km dann die “Frühstücks”-VP am Waldsportplatz, wo ich mir einen warmen Wellness-Tee gönne – sowieso sind dieses Jahr die kalten Getränke nicht so ganz mein Ding. Dann geht es mit einem Linksknick auf den “echten” Rennsteig und es beginnt das etwa 15km lange “Warmlaufen” für die schweren Parts am Inselsberg.

In Summe bleibt dieser Abschnitt als “flach” im Gedächtnis – wenn man sich jedoch das Höhenprofil anschaut, bemerkt man, dass es schleichend Meter für Meter von 210m Höhe in Richtung 900m geht. Ich empfand diesen Anstieg bisher nie als übermäßig schwierig und meine, dass das für den durchschnittlichen Marathon- oder Trailläufer kein Problem ist.

Ein echter Albtraum ist die Passage um km 17, wo eine kleine Downhill-Strecke zur Glasbachwiese wartet: Was vor 7 Jahren noch dichter Wald war, ist nun ein baumloser Hang voller Baumstümpfe. Das gleiche Horrorbild wie auch in den Wäldern Nord- und Osthessens, wo die Stürme und die Trockenheit der Jahre 2018 und 2019 übelste Verwüstung hinterlassen haben. Abgesehen davon, dass es heute etwas windiger im Vergleich zu den vergangenen Tagen ist, fällt mir mehr als einmal auf, dass der Anstieg zum Inselsberg früher windgeschützter war.

Nach der ersten großen VP an der Glasbachwiese wird der Untergrund anspruchsvoller, besonders diese “Wurzeltreppe” bei km 18 (siehe Foto im 2013er-Bericht). Dieser Part ist optisch ein echtes Kunstwerk der Natur und inspiriert mich dazu, die Konzentration zu reduzieren und mich folgerichtig voll auf die Fresse zu legen. Selber schuld!

Kurz danach wieder eine Straßenüberquerung und der ehemalige “Geröllweg” bei km 19 – dieser wurde aber durch Räumarbeiten deutlich entschärft. Trotzdem ist dieser Abschnitt äußerst steinig und nicht ganz leicht zu laufen. In meiner Erinnerung bleibt es der Part, den ich in erster Näherung mit Paris – Roubaix vergleichen würde (was am folgenden Sonntag stattfand). Dort würde man eine solche (Kopfsteinpflaster-) Passage natürlich “Pavé” nennen.

Während man Paris – Roubaix zu den “Monumenten des Radsports” zählt, ist der Rennsteig definitiv ein “Monument des Laufsports” (wie auch Biel, Comrades, Spartathlon, usw.). Und den berühmten “Wald von Arenberg” sehe ich auch auf Augenhöhe mit diesem “Wald vom Inselsberg”!

Danach endet das “Warmlaufen” endgültig: Die ersten knackigen Anstiege warten und die Gehpausen werden unvermeidlich länger. Nach 23km startet nach einer Rechtskurve der Final Climb zum Inselsberg – dieser Anstieg ist so absurd steil, dass wirklich niemand mehr laufen kann. Es ist definitiv der Zoncolan des Supermarathons! Das kurze Gefälle in der Mitte dieses Final Climbs ist übrigens genauso absurd steil.

Da ich erst vor Kurzem beim Bergwandern im Allgäu unterwegs war, verfolge ich den Plan, mit Schwung in jede Steigung reinzulaufen, um möglichst spät erst gehen zu müssen. Das funktioniert ziemlich gut und ich merke, dass Wanderstrecken der Kragenweite Oberstdorf -> Nebelhorn (1400 Höhenmeter) oder Skiflugschanze -> Fellhorn (1200 Höhenmeter) meine Muskulatur ganz passabel auf diese Steigungen vorbereitet hat.

Oben auf dem Inselsberg in 915m Höhe ist es nebelig und natürlich kalt, so dass da eigentlich Jeder schnell wieder runter möchte. Es geht downhill über diese Treppe, an der man meiner Meinung nach die berühmte Treppenszene aus Rocky 2 neu verfilmen könnte. Oben auf dem Inselsberg gleich noch die “Draaaaagooooo”-Szene aus Rocky 4 – das wäre dann kaufmännisch ein ziemlich günstiger Schnapp.

Es sind jetzt 26km rum und es geht brutal den Berg runter – oh Mann, jetzt weiß ich wieder, wie man Knieschmerzen buchstabiert. Karsten ist bestimmt schon in Oberhof und pflückt unterwegs noch einen Korb Pilze – ist ja ein Megajahr dafür.

Unten steht, kurz vor der VP am Kleinen Inselsberg, ein Schild “Bratwurstimbiss”. Ich würde darum bitten, dass das bei meiner nächsten Teilnahme zumindest für die kurze Zeit, in der ich da vorbei laufe, zugedeckt wird! Das macht mich ansonsten mental total fertig. Also Plan B: An der VP ein Gel reingequetscht und mit Wasser, Tee und Cola runtergespült.

Nach der Straßenüberquerung geht es wieder leicht nach oben, wie üblich nach jeder VP! Das sollte sich jeder für den ersten Supermarathon merken. Ich weiß nicht, ob das Zufall, Absicht oder der Rennsteig-Algorithmus ist, aber es ist einfach so. Wenn ich es im Vorbeilaufen richtig gesehen habe, ist hier heute eine Kart-Rennen.

Aber jetzt fängt definitiv ein etwa 12km langer, ruhiger Part des Supermarathons an. Zwar sind immer noch kleine Anstiege dabei, aber die sind zu vernachlässigen und es fällt relativ leicht, die km im Bereich 6 Minuten zu laufen. Hier hat der Wald scheinbar auch Sturm und Trockenheit besser verkraftet, als auf der anderen Seite des Inselsbergs. Das Thema Bäume und Pflanzen verdeutlicht aber auch einen ganz klaren Vorteil des Veranstaltungstermins im Oktober gegenüber dem Mai: Wer Allergie-Probleme mit Blütenpollen hat, weiß, wovon ich rede.

Dieser etwas ruhigerer Part des Supermarathons gibt mir die Gelegenheit, ein wenig retrospektiv auf das Sportjahr 2021 zurückzublicken: Wie schon 2020 ist ja wieder fast Alles flachgefallen – Ironman WM, Frankfurt Marathon, usw. Immerhin fanden ja die “Olympischen Spiele 2020” in Tokio statt. Zwar ohne Zuschauer, aber immerhin! Und wo wir gerade in Thüringen sind: Am meisten beeindruckt haben mich die 50km Gehen von Jonathan Hilbert, der über diese Monsterstrecke Silber bei Olympia gewann. Ohne Ahnung zu haben, bin ich mir sicher, dass 50km Gehen sehr viel härter sind, als der normale Marathon und auch nicht weit entfernt vom Rennsteig Supermarathon. Fast 4 Stunden mit Technikzwang Tempo zu machen, muss Krämpfe ohne Ende geben. Was ich aber trotzdem schade finde, ist die Tatsache, dass die 50km Gehen nicht mehr olympisch sein werden und durch eine 35km-Distanz ersetzt werden sollen. Schade – dieser Wettbewerb gehört für mich genauso zu Sommerolympia wie die 50km Skilanglauf zu Winterolympia. Die 35km sollten meiner Meinung nach den Langen Läufen für den Marathon vorbehalten bleiben!

Gerade, als mir auffällt, dass in weniger als einem halben Jahr schon wieder Olympische Spiele in Peking sind, bin ich nach 37,5km an der Ebertswiese. Ein nett gemeintes Schild verbreitet die frohe Botschaft “Die Hälfte ist geschafft”. Richtig ist aus meiner Sicht “Das erste Drittel ist rum”. Die Ebertswiese ist die VP, die aus der Ferne immer wie ein Weihnachtsmarkt wirkt und wo man gerne etwas länger verweilen möchte. Als ich gerade schon die Luca-App zücken will, fällt mir auf, dass das hier erstens Außengastronomie ist und zweitens keinerlei Nachweise nötig sind und drittens dieser Gedanke völliger Schwachsinn ist. Also weiter – ins zweite Drittel.

Dann wieder die übliche Steigung nach einer VP, dann wieder etwas Ruhe. Jeder, der schon mal den Supermarathon gelaufen ist, weiß, was jetzt nach 42km kommt: Das Schild “Sperrhügel”, die Linkskurve und dann dieser extreme Anstieg hoch bis auf 900m – mit einem kompletten Marathon in den Beinen. Das ist eine fiese Mischung zwischen der Eiger-Nordwand und der Rupal-Flanke am Nanga Parbat – eine völlig unlaufbare Passage. Aber es ist wahrscheinlich sowieso die Kunst, über die fast 74km den sinnigsten Mix zwischen Laufen und Gehen zu finden. Durchlaufen kann das keiner! Mir fällt aber signifikant auf, dass der Gehweg hier deutlich verbessert wurde.

An der VP bei den “Neuhöfer Wiesen” nach 44,7km höre ich einen Satz, der nicht für mich bestimmt war, aber den ich für mich kurzzeitig später als richtig begreife: “Du brauchst Salz und zwar dringend!”. Mir fällt es nämlich zunehmend schwerer, den Rhythmus zu halten und mir ist minimal schwummrig in der Birne. Aber ansonsten machen mein Magen und meine Verdauung heute absolut mit: Es gelingt mir, bis einschließlich km 62 Gels zu mir zu nehmen. Die leckeren Brote kriege ich trotz aller Anstrengung nicht rein – die sind mir zu mächtig. Ansonsten greife ich bei jeder VP zusätzlich zu den anderen Getränken zu einer kleinen Cola zwecks Energiebetankung.

Wenn ich ehrlich sein soll, sind die wahren Gewinner meiner Rennsteig-Vorbereitung – das waren etwa 1800km seit Januar – die Dönerläden und Essens-Lieferservices unseres Vertrauens! Zum Schluss waren zwei Dönerteller mit Pommes und Salat der absolute Standard am Samstag Abend. Aber das ist ja auch die Message des Energieerhaltungssatzes nach Isaac Newton: Von nix kommt nix! Und hungern oder Diät machen kommen für mich nicht in Frage – der Sport ist für mich die Legitimation (und die Pflicht), reichlich zu futtern. Große Mahlzeiten und der Supermarathon sind für mich die wahre “Balance of Power”.

Die in diesem Bereich etwas monotone Waldstrecke und meine aufkommende Müdigkeit legen auf meinem geistigen Plattenspieler “Riders on the Storm” von den Doors auf – als Endlosschleife! Der Lauf wird für mich jetzt zunehmend härter. Aber nicht umsonst kann man Schmiedefeld und Eisenach vermischen und es kommt Schmiedeeisen heraus! Ich bin heilfroh, als ein Läuferkollege ein paar km neben mir läuft und wir uns ein wenig unterhalten. Das lenkt auch von den stärker werdenden Knieschmerzen ab.

Na also – da vorne ist die VP Gustav-Freytag-Stein bei km 50,6. Ich mische mir erstmal einen Salz-Wasser-Cocktail, um wieder klar in der Birne zu werden. Währenddessen kann ich im MDR-Radio in aller Deutlichkeit mithören, dass auf der Marathonstrecke Filimon Abraham in für mich unglaublichen 2:24:48 Stunden gewonnen hat. Diese Zeit klingt für mich absurd gut, da der Streckenrekord vorher bei 2:34:22 Stunden stand.

Als “Nachtisch” nehme ich an dieser VP noch ein gesponsertes Gel mit Honig-Geschmack. Und völlig unvermeidlich geistert mir der alte Witze-Klassiker durch den Kopf: Chuck Norris isst keinen Honig – Chuck Norris lutscht Bienen. Oh Gott – es wird Zeit, dass ich weiter laufe.

Was für ein Glück, dass es gefühlt “bergab” nach Oberhof geht – das läuft hier eigentlich ganz passabel. So langsam beginnt man, den Wintersport zu riechen; spätestens als die Skirollerstrecke überquert wird. Und zack – schon ist man nach 55km im Wintersport-Mekka Thüringens, wo unter Anderem wieder die Biathlon-WM 2023 stattfinden wird.

Für mich ist hier am Grenzadler gefühlt immer Halbzeit, denn die restlichen 19km werden ganz sicher hart. Die wenigen Meter Laufstrecke auf Teer tun irgendwie gerade ziemlich gut und erinnern mich daran, dass am morgigen Sonntag neben Paris-Roubaix auch der verschobene London-Marathon stattfindet. Das Jahr 2021 führt tatsächlich dazu, dass alle Rennen der World Marathon Majors im Oktober und November stattfinden. Der Berlin-Marathon vergangene Woche war der große Restart für die City-Marathons – endlich!

Verzweifelt versuche ich erneut, mir eines der leckeren Brote in die Futterluke zu stopfen – wieder vergebens. Das wird heute nix mehr! Eigentlich sind ja dieses Mal keine Zuschauer an der Strecke gestattet, aber Einige lassen sich dieses Event dann doch nicht nehmen und so wird wirklich jeder Läufer persönlich angefeuert.

Weiter geht’s – die beiden nächsten Hügel warten. Ich muss gestehen, dass ich ab hier die Steigungen zu 90% nur noch gehen kann und ansonsten auch nur noch seicht dahin trabe. Der Unterschied zum Comrades-Marathon besteht darin, dass der Rennsteig immer ein Up-Run ist, während der Comrades jährlich wechselt. Würde man das hier beim Supermarathon auch machen, hätte man bei einem Down-Run ab dem Inselsberg satte 25km Downhill.

Es wird schwerer und schwerer und ich frage mich immer öfter, warum ich mir den Rennsteig heute antue. Die Antwort ist die gleiche, warum Bergsteiger auf den Everest steigen: Weil er da ist! Etwas traurig macht mich die Message meiner GPS-Uhr, die mich seit km 51 mit der Message “Akku schwach” penetriert. Das ist heute leider der Fehler in der Matrix.

Über einen schmalen, sehr steilen Weg – manche nennen ihn die Merkl-Rinne – geht es jetzt hoch auf den Beerberg, dem mit 974m höchsten Punkt der Strecke. Ich muss ziemlich viel Kraft investieren, um laufend über den Kulminationspunkt zu kommen. Wo ist eigentlich der Seitenbacher-Mann, wenn man ihn mal braucht? So ein Bergläufer-Müsli könnte ich jetzt gebrauchen. Ich versuche mir, den Klassiker aller Trainer-Zurufe “Drüber ziehen!” (hoffentlich missversteht das nie einer!) zu Herzen zu nehmen, mache 2 beherzte Schritte über den Gipfelpunkt und lasse dann wieder locker. Yeah! Das hat zwar fast gar nix gebracht, aber ist immerhin ein mentaler Sieg nach fast 8 Stunden Quälerei.

Bei km 63, kurz nach dem Beerberg, begibt sich meine GPS-Uhr, mein jahrelanger treuer Begleiter, in den Lockdown und ich laufe quasi im Blindflug. Na ja – ein Nachfolger wurde schnell gefunden. Aber hier hat man (reproduzierbar) zum ersten Mal das Gefühl, es bald geschafft zu haben. Es geht leicht bergab und nur noch marginal nach oben zur Wetterstation nahe der Schmücke. Kurz vor dieser Straßenüberquerung läuft wieder irgendein Radio äußerst laut und im MDR wird irgendwas über Politik, Wahlen, Sondierungsgespräche und Ähnliches postuliert, was ich geistig nach 64km überhaupt nicht mehr verarbeiten kann. Ich glaube, es ging auch darum, dass der Beerberg in Bärberg umbenannt werden soll, weil man da einen Problembären gefunden hat. Er heißt wohl Prunö und ist der verschollene thüringische Stiefschwippcousin von unserem Pruno. Oder so ähnlich….

In einem Akt gnadenloser Selbstreflexion erkenne ich, dass ich an der VP Schmücke bei 65km nochmal Salz nehmen muss und auch ansonsten ein letztes Mal ordentlich auftanken sollte: Meine Hirse und der Kreislauf dümpeln hier ziemlich auf Reserve. Aber zum Glück geht es nur über die Straße und auf der anderen Seite entlang eben dieser Straße runter zur Schmücke.

… dachte ich. Die Strecke führt nämlich in Wirklichkeit immer weiter in den Wald rein oder auf deutsch gesagt: Immer weiter weg von der Schmücke! Gerade, als ich das Klagelied des einsamen Wolfes anstimmen will, laufe ich auf die lauteste Applaus-Crew der ganzen Strecke zu. Die machen einen Lärm, dass es mich fast aus den Schuhen haut. Ich werfe mal einen schüchternen Blick hinter mich und werde sofort mit einem “NEIN WIR MEINEN DICH!” weiter angetrieben. Wenn ihr das lest, vielen Dank dafür!!!! Das ist der entscheidende Kick, der mich über die letzten 10km treibt. Da ist auch völlig Wurscht, dass man mit dieser Extraschleife den 72,7km langen Supermarathon zu einem 73,9km langen Superplusmarathon verlängert hat – das verbuchen wir mal als kleinen Running-Gag.

Und dann der letzte große Pitstop an der Schmücke. Alles rein, was noch geht. Dieses alte Schild “Gestern gab es Freibier” an der Gaststätte lässt mich mal wieder breit grinsen. Das Gefühl, es bald geschafft zu haben, wird langsam größer.

Aber jetzt kommt nochmal eine Downhill-Wurzeltreppe, bei der man bei fortgeschrittener Müdigkeit ganz ordentlich aufpassen muss, sich nicht auf die Fresse zu legen. Da habe ich keinen Bock drauf – einmal am Tag reicht völlig. Danach wird die Strecke eben und gleichförmig – gefühlt sieht jetzt jeder Meter gleich aus.

… fast. Da kommt ja bei km 69 noch die letzte wirklich Herausforderung auf dem Weg ins Ziel. In Fachkreisen wird dieser Heartbreak Hill deshalb auch der Hillary Step genannt. Würde man diesen Step innerhalb der ersten 30km laufen – er wäre wohl nahezu belanglos, aber nach fast 70km ist das nochmal ein heftiger Schlag in die Magengrube.

Wenn man ehrlich zu sich selbst ist, dann ist dieser Supermarathon auch kein verlängerter Marathon mit “ein paar Kilometern hinten drauf”. Von vielen Marathonläufern, die den Supermarathon beim ersten Mal mit dieser Einstellung angegangen sind, hört man danach Aussagen wie “Da habe ich mich total daran verguckt” oder Ähnliches. Von der Belastung her lautet die Wahrheit, dass diese Strecke ein gefühlter 100km-Lauf mit “ein paar Kilometern Rabatt” ist.

Waren bis hierher “nur” alle 5km die Distanzschilder aufgestellt, werden die letzten 5km zum Glück alle einzeln angezeigt. Da ich ja seit einiger Zeit im GPS-Blindflug unterwegs bin, motiviert das ungemein.

Oben angekommen, ist die Nuss dann aber echt geknackt und der Drops gelutscht. Die restlichen 3km runter (!) ins Ziel nutzt man am Besten, um sich selbst zu feiern und die Dopamine fließen zu lassen – diese 3 Kilometer sind die Belohnung für viele hundert Kilometer Training. Der Supermarathon klingt jetzt definitiv nach Hells Bells von ACDC!

Bevor ich in Schmiedefeld ins Ziel einlaufe, soll und muss erwähnt werden, dass Karsten seinen ersten Supermarathon in sauberen 8:50:06 Stunden bereits hinter sich und Kerstin über den Marathon mit 4:04:40 Stunden eine Top-Platzierung (und eine interssante Ziffernfolge bei der Zielzeit) erreicht hat. Die Gewinner über die lange Strecke sind dieses Jahr Juliane Totzke in 5:53:28 Stunden (als bemerkenswerte Gesamt-Dritte) und Frank Merrbach in 5:32:28 Stunden.

Dann noch die letzte Straßenüberquerung und rein nach Schmiedefeld. Bevor ich aber mit Gänsehautentzündung durch das Applausspalier ins Ziel laufe, sei noch ein Riesendank und großen Respekt an die Veranstalter und die vielen, vielen ehrenamtlichen Helfer losgeworden:

Danke, danke, danke, dass dieser Rennsteiglauf stattgefunden hat!

Es wird hier in jeder Sekunde deutlich, dass der Rennsteiglauf viel mehr als eine Sportveranstaltung ist und eine große kulturelle Bedeutung für Thüringen hat. Als ich die letzten Meter mache, ändert sich meine “Geschwindigkeit” nochmal von sehr langsam auf nicht mehr vorhanden. Ich weiß gerade gar nicht, wie lange ich gebraucht habe. Auf der Zieluhr steht was von 10 Stunden und ein bißchen was – das ist aber sicher für die ersten Starter, die um 6:30 Uhr losgelaufen sind. Da Kopfrechnen nicht mehr möglich ist, gehe ich ins Ziel und erfahre später, dass ich

9:40:50 Stunden

gebraucht habe. Gut – ich war schon mal fast ein Fußballspiel schneller hier, aber das soll heute mal nicht das Thema sein. Als allerdings meine Kopfrechnungs-Synaptik ihren Dienst wieder aufnimmt, registriere ich, dass das genau die doppelte Zeit (!) des Streckenrekordes von 4:50 Stunden von Christian Seiler ist. Ich könnte jetzt behaupten, dass das Absicht war, das wäre aber krass gelogen – mehr war heute nicht drin. Ein bißchen falsch trainiert, ein bißchen älter geworden, vielleicht die falschen Schuhe an – what ever?

Karsten sitzt schon umgezogen und mit Erfrischungsgetränk in der Hand im Zielbereich. Nach dem Ziel-Selfie (mit Medaille-Anknabbern) ziehe auch ich mich um und wir sind ziemlich froh, als Karstens Frau Claudia im Zielbereich ankommt, um dankenswerterweise den Taxiservice zurück nach Eisenach zu übernehmen. Das erspart uns das Warten auf den Shuttle-Bus.

Das Problem daran: Das Auto steht etwa 4km entfernt auf einem Wandererparkplatz, da Schmiedefeld komplett abgeriegelt ist, auch für Taxis. Also bleibt nur eine Lösung: Wandern! Und zwar die letzten km der Super-Marathonstrecke wieder rückwärts. Sofort klingt der Rennsteig in meinem Kopf nach Fats Domino’s “I’m walking” und es beginnt eine Odyssee, die wir separat verfilmen werden (müssen), weil die Nachwelt erfahren muss, wie nett und hilfsbereit die Thüringer sind!

Viel, viel später – der Tageskilometerzähler ist von 74 auf 78km hochgetickert – kommen wir an besagtem Parkplatz an und düsen über Suhl zurück nach Eisenach. Jetzt registriere ich, dass ich, wohl auch wegen des ausreichenden Salzkonsums, quasi keine Krämpfe habe – das war vor 7 Jahren erheblich schlimmer. Claudias Wanderkilometer-Zähler ist heute auch bei satten 8km angekommen – Lob und Anerkennung dafür!

In Eisenach angekommen, ist es fast schon komplett dunkel, als ich in mein Auto steige. Völlig geflasht von der Erlebnissen des Tages fahre ich durch die Dunkelheit über die A4 nach Osthessen. Ich drehe das Radio – MDR natürlich – auf maximale Lautstärke und gröhle irgend etwas mit (ich glaube, es war etwas von Queen). Gerade, als ich mir die Frage, ob man den Supermarathon laufen sollte, selbst mit einem klaren Ja beantworten will, fällt es mir wie Schuppen von den Augen: Jahrelang dachte ich, MDR steht für Mitteldeutscher Rundfunk (vielleicht tut es das auch), aber weil Jeder irgendwann nach Schmiedefeld muss, heißt es in Wahrheit MACH DEN RENNSTEIG!

Christian Meise

Christian Meise

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