Runners Classixx – 100km Rodenbach

Jahrhunderte lang dachte man, die Erde sei eine Scheibe – dann kam Kolumbus. Genauso lang dachte ich, nach 42,195km ist man am Ende des läuferischen Kosmos angekommen – dann passierte Folgendes:

– 100km Rodenbach 2012 –

Vorgeschichte

Es war der Frankfurt-Marathon 2010, so etwa bei km 37 – ich erkannte, dass es wieder keine glorreiche Endzeit werden würde. Um genau zu sein, wurde es eine Pussi-Zeit, weil mir für die 2.Hälfte wie schon 2009 der Dampf fehlte. Eine „Verbesserung“ von 3:57h auf 3:53h kam letztendlich heraus – wie peinlich! Meine Laune der folgenden Wochen würde ich vergleichen mit dem Abstieg in die 2.Liga aufgrund des schlechteren Torverhältnisses nach einem 0:8 im Lokalderby am letzten Spieltag.

Aber alles Jammern half ja nichts – hier mussten Lösungen her (das meine ich nicht im chemischen Sinn). Nach einiger Zeit des unkoordinierten Grübelns manifestierte ich eine Idee, die sich theoretisch simpel anhört: Wer 42,2km laufen will, nach 35km aber in die Knie geht, der muss einfach für 50km trainieren, um genug Power für den Marathon zu haben.

Gesagt, getan – nachdem ich mir diese Idee habe patentieren lassen, wagte ich Ende Januar 2011 ich den Schritt von der Theorie in die Praxis und absolvierte unter größtmöglichem körperlichem Einsatz die 50km in Rodgau und registrierte da zum ersten Mal, dass es beim DUV einen 50km-Cup gibt.

50km? Was für eine merkwürdige Distanz! Was ist das eigentlich – ein verlängerter Marathon oder schon ein Ultralauf? Die Antwort ist völlig egal, denn ich war nach 5:20h im Ziel, wobei ich ab km 46 gehen musste und hinterher die Kopfschmerzen meines Lebens hatte. Aber Manche gehen 50km lang – sogar bei Olympia. Und bekommen auch noch Medaillen dafür!

Weil dieses ganze Zwischenzeit- und Bestzeitdenken der üblichen Distanzen 10km, HM und Marathon normalerweise nicht stattfindet, finde ich einen 50km-Lauf deutlich stressfreier. Dies nahm ich spontan zum Anlass, nur 2 Monate später auch noch den 50er in Eschollbrücken mitzunehmen (Aua!).

Was ich spitzenmäßig finde, ist die Tatsache, dass 3 der 6 Cup-Läufe in Hessen stattfinden (die 3. Station ist der Lahntallauf in Marburg) – das hatte das Potenzial zum Fixpunkt im Laufkalender.

Und was soll ich sagen: 2011 schaffte ich in Frankfurt eine 3:28h – vor Allem dank 1:48h auf der 2.Hälfte (2009 = 2:07h / 2010 = 2:02h). Der Plan schien aufzugehen; allerdings vertrete ich ihn bis heute welt-exklusiv. Diesbezüglich registriere ich in meinem direkten Umfeld eine bemerkenswerte Beratungsresistenz. Aber egal – die Sache verselbstständigte sich. Ich hatte Blut geleckt…

Deshalb musste es 2012 eine Stufe härter sein: To Biel or not to Biel – das war hier die Frage. Ich hatte im Jahr zuvor über das Duell Dieter Baumann vs. Martin Grüning bei den 100km in Biel gelesen – dies hatte mein Interesse in Richtung Schweiz gelenkt. Irgendeinen Spruch der Kategorie „Willst Du viel, lauf in Biel“ hatte ich kurz zuvor gehört.

Und da, ganz plötzlich, wie aus dem Nichts, tauchte auf der DUV-Homepage die Nachricht auf, dass die DM über 100km Anfang Oktober in Hanau-Rodenbach stattfindet. Hanau-Rodenbach? Das ist doch hier gleich um die Ecke – gerade mal etwa 40km in Richtung Weißwurst-Äquator. Da bräuchte ich nicht mal eine externe Übernachtungsmöglichkeit – aber gleich von 50km auf 100km? Grübel…

Auf jeden Fall war Biel damit erst mal vom Tisch, aber es musste eine „Zwischenlösung“ her. Also suchte ich verzweifelt nach einem Wettkampf der Kragenweite 75km. Wo gibt’s denn so was? Die Recherche im www nannte einen Lauf in Celje (Slowenien), aber das war mir zu viel Aufwand. In der selben Preisklasse befanden sich noch die 78km beim Swiss Alpine Marathon in Davos, der 80km-Nachtlauf in Karlsruhe und der 72,7km lange Rennsteig-Supermarathon.

In Davos war ich 2010 schon eine 30km lange Teilstrecke gelaufen und kenne auch die beeindruckende Gebirgsstrecke des K78 – diesen Lauf wollte ich mir noch ein wenig aufheben! Auf einen Nachtlauf hatte ich keinen Bock – nachts feiere ich oder schlafe normalerweise. Deshalb war auch Karlsruhe erst mal vom Tisch.

Also fiel die Wahl der Qual auf den Rennsteig als „Gewöhnungslauf“ für die 100km und über dieses beeindruckende Erlebnis in Thüringen berichtete ich in maximal möglicher Ausführlichkeit ja an anderer Stelle. Auf den Vergleich Rennsteig vs. 100km in Rodenbach gehe ich übrigens später noch ein.

Der Plan wird konkret

Nachdem ich mich in Rodenbach angemeldet hatte, musste ich dies natürlich meinen Leuten auch beichten; die Allermeisten haben davon aber bis heute überhaupt nichts mitbekommen. Die durchschnittliche Reaktion war die Frage „Geht’s noch?“ – also das sichere Zeichen, dass ich Alles richtig machte! Diejenigen, die mich besser kennen, antworteten (besonders nach dem Rennsteig) eher mit einem emotionslosen „Aha“, „Soso“ oder einem fürsorglichen „Brauchste Urlaub?“.

100km laufen – wer macht denn so was? Und das auch noch 3 Wochen vor dem heiligen Frankfurt-Marathon? Da konnte ich wohl eine gute Zeit in Frankfurt vergessen – oder vielleicht doch nicht?

Natürlich muss man nach dem Prinzip von Ursache und Wirkung für eine solche Strecke auch recht umfangreich trainieren. Entgegen meiner sonstigen Vorgehensweise erschien mir hier das Einhalten eines erprobten Trainingsplans sehr wichtig (die Quälerei am Rennsteig war eine Lektion!). Aber sämtliche Pläne nannten als längsten Vorbereitungslauf maximal 60km. Das sollte reichen? Fragen über Fragen…

Iron-Helmut versuchte verzweifelt, mir beizubringen, dass es nicht auf den längsten Lauf ankommt, sondern auf die Summe der Kilometer pro Woche. Meine Klugscheißer-Antwort darauf lautete, dass sowohl der längste Lauf, als auch die gelaufenen Wochenkilometer völlig scheißegal sind, wenn die Summe der Krämpfe gegen 0 konvergiert, indem man die Getränkeaufnahme in Litern ab km 40 durch das Quadrat der gegessenen Bananen teilt, mit der Quersumme der eigenen Startnummer erweitert und dann einen Wert größer 2 erhält.

Ähm – Was wollte ich eigentlich sagen? Ach ja genau – ich sollte dann mal mit dem Training beginnen….

Training

Genau 8 Wochen nach dem Rennsteig startete ich die Vorbereitung und gab als allererstes Geld aus: Da es mir mental völlig unmöglich erschien, alle langen Einheiten permanent auf einer monotonen 10km-Runde zu absolvieren, mussten neue landschaftliche Reizpunkte gesetzt werden. Ich hatte irgendwie Bammel, dass mir Kraftwerks „Autobahn“ als Endlosschleife im Kopf rumdudelt. Ohne Zweifel ein großer Werk – aber nicht 6 Stunden lang.

Mein Ziel bestand also darin, eher mal 3 Stunden in Richtung Horizont zu laufen, eine neue Gegend zu erforschen und dann wieder zurück zu laufen. Das würde das Training wahrscheinlich deutlich erträglicher machen, erhöhte natürlich aber auch die strategischen Anforderungen an das Catering, weil man nicht mehr alle 40 Minuten den Kofferraum seines Autos zwecks Büfett öffnen kann.

Die Lösung, die ich mir bis vor kurzem noch nicht wirklich vorstellen konnte, war ein Trail-Rucksack mit einem 1-Liter-Trinkbehälter und genügend Stauraum für alles Weitere. Damit kam ich grandios zurecht und verlängerte die erste geplante Einheit spontan von 40 auf 51km. Eigentlich erstaunlich: Seit dem Rennsteig hatte ich nie mehr als 35km pro Woche trainiert – also dafür ging die erste Einheit verblüffend einfach. Eine witzige Begebenheit führte mir vor Augen, dass ich an diesem Tag sehr lang unterwegs war: Spaziergänger sprachen mich am späten Nachmittag darauf an, dass sie mich schon vor dem Mittagessen gesehen hätten. Aha! Und ob ich etwa an diesem Lauf in der Schweiz teilnehme. Ist ja noch besser! Aber was war die Erkenntnis dieser Begegnung?

  1. Ich laufe wirklich sehr lang(sam)
  2. Diese Leute kennen Biel
  3. Sie gehen zweimal pro Tag Spazieren

Was ich dazu noch sagen will: Eine äußerst praktikable Erfindung dieser Rucksack; der stört beim Laufen fast gar nicht und man kann alles Nötige mitnehmen (Getränke, Essen, Schlüssel, Handy, Einweggrill, usw.). Eine minimale Sache sollte man aber beachten: Man darf sich nicht zu sehr darauf verlassen, den Füllstand des Trinkbehälters genau zu kennen. Der Erfahrung nach sollte man immer noch mindestens eine normale Flasche mitnehmen, denn sonst steht man plötzlich 20km von der Getränkestelle entfernt in der Pampa und auch auf dem Trockenen.

Beflügelt von diesem erfolgreichen Trainingsauftakt startete ich in den kommenden Wochen ein Pensum im Bereich 60 – 90km, das Meiste davon bei den langen Läufen. Aber auch das Tempotraining unterhalb der Woche wurde nicht vernachlässigt – immerhin sollte der Frankfurt-Marathon ja implizit mit vorbereitet werden (die 100km sollen quasi den Trainingsabschluss vor Frankfurt darstellen). Folgende lange Läufe zog ich hochmotiviert durch:

  • KW32: 51km
  • KW33: 46km
  • KW34: 42,2km (Koberstädter Waldmarathon / 3:49h)
  • KW35: 42,2km (Darmstadt-Marathon / 3:55h)
  • KW36: 30km (Garbenteich / 2:34h)
  • KW37: 52km

Eine Premiere waren die beiden Marathons in Egelsbach (Koberstadt ist keine Stadt, sondern ein Waldgebiet) und Darmstadt, da ich noch nie 2 volle Distanzen an aufeinander folgenden Wochenenden versucht hatte. Ging aber – sogar beide unter 4h.

In Egelsbach rannte ich die 1.Hälfte in 1:50h, nahm dann den Dampf raus und ließ mir für die 2.Hälfte 2h Zeit. Das Gleiche versuchte ich in Darmstadt in umgekehrter Reihenfolge; jedoch wurden es dort 2h und 1:55h. Hier merkte ich, dass man halt nicht so ohne Weiteres 2 Marathons direkt hintereinander laufen kann, ohne Abstriche machen zu müssen. Aber noch was: Diese beiden Marathons sind nicht ganz so flach, wie man das allgemein annimmt. Besonders die neue Streckenführung in Darmstadt ist eine Herausforderung über 4 Runden, die noch schwerer ist als der alte Kurs (Nachtrag vom 26.02.2014: Der Darmstadt-Marathon ist nach nur 5 Austragungen schon wieder Geschichte. Schnüff!).

Und ob man es glaubt oder nicht: Während der Wochentage absolvierte ich abends tatsächlich Sprint- und Intervalltraining – das habe ich früher zu selten gemacht. Auffallend (aber eigentlich logisch) war, dass die Regenerationszyklen kontinuierlich kürzer wurden. Die 30km in Garbenteich waren dann so eine Art Schaf im Wolfspelz: Ich rannte die ersten 10km für meine Verhältnisse ziemlich „schnell“ (45 Minuten) und joggte dann den Rest zu Ende. Die Konkurrenz schaute mich an, als gehöre ich irgendwo eingeliefert.

Der Sinn davon sollte eine größere Bandbreite in der Belastung sein – Geschwindigkeit und Distanz quasi in einer Trainingseinheit. Aber scheinbar war die Welt noch nicht bereit für solche bahnbrechenden Ideen. Emil Zatopek und ich wären wahrscheinlich gute Freunde geworden. An diesem Tag war es für September unglaublich warm – ich glaube, ich habe mir deutlich mehr als 15 Becher Tee und Rülpswasser in die Figur geschüttet. Ja ja, ich weiß – Schweiß ist, wenn die Muskeln weinen.

Ganz ehrlich – die letzte richtig lange Einheit sollte 60km lang werden. Aber es kam anders, denn ich lief wieder mit Rucksack einfach so in die Landschaft rein. Nach 20km ging es den Berg hoch. Nachdem es bei km 27 immer noch den Berg hoch ging, hinterfragte ich meine geografische Vorbereitung. War ich etwa am Rennsteig gelandet?

Was war geschehen? Ohne es zu wissen, bin ich auf den höchsten Punkt des Main-Taunus-Kreises (MTK) gelaufen, den 560m hohen Eichkopf. Nachdem ich dort das Gipfelkreuz mit meinem Namen und der Inschrift „Wer das liest, ist doof“ hinterlassen hatte, nahm ich glatt alle weiteren Berge der Gegend mit und war nach 52km so was von völlig alle, dass ich nach Hause abbog. Aber reichten 52km Berglauf für 100km flach? Fragen über Fragen…

Habe ich eigentlich bis hierher (ungewollt) den Ausredenkatalog bemüht? Wenn ja: Einen Weichei-Punkt an mich.

Entgegen aller Vorgaben fuhr ich nach einem Wochenende mit einem nur 21km langen Regenerationslauf eine Woche vor den 100km zum Halbmarathon nach Weinheim, um mich in 1:39h für Rodenbach einzugrooven. Ich hatte keinen Bock mehr auf Training oder so was. Meine mentale Vorbereitung in dieser Zeit absolvierte ich im Allgemeinen in der Sauna – die Disziplin hieß „Saunaobensitzen und auf die Zähne beißen, bis das letzte Körnchen in der Sanduhr durchgerieselt ist“. Das sollte man natürlich nie machen, wenn das der Kreislauf nicht verträgt. Schmähungen der Kategorie „Sauna-Untensitzer“ muss man an dieser Stelle einfach Mal ignorieren.

Der eine oder andere hat mich angeschaut wie ein Eichhörnchen, wenn ich mich nach einer Viertelstunde Einzelkampf wieder mal vor der Sauna hinsetzen musste, weil mir schwummrig war. Sorry an alle Saunabademeister, die sich wegen mir unnötig Sorgen gemacht haben! Übrigens: Setzt man sich in den 15 Minuten nach einem Aufguss in die Saunakabine, ist dies meistens deutlich härter als der Aufguss selber. So jedenfalls meine Erfahrung.

Deutsche Meisterschaften – 100km

Bevor es losgeht, noch mal ganz kurz darüber nachgedacht, was wir hier überhaupt machen. 100km? Wer kommt eigentlich auf die verrückte Idee, an einen Marathon noch 58km dran zu hängen? Was ich bisher gar nicht wusste: Die 100km sind tatsächlich die längste Distanz, über die der DLV seit 1987 offizielle Deutsche Meisterschaften ausrichtet. Und diese Premiere fand statt in – Tatatataaaaa – Hanau-Rodenbach natürlich. Das Profil der Strecke in Rodenbach ist genauso flach, wie die Unterstreichung dieses Satzes (ok ich geb’s zu – die eine oder andere Textpassage ist genauso flach).

Hanau ist übrigens auch der Geburtsort von Tante Käthe und aufgrund der Nähe zu Bayern war es in den Zeiten vor dem Zentralabitur das Eldorado für reisebereite Bayerische Schüler, die sich nicht ganz so hart quälen wollten wie jenseits des Weißwurst-Äquators. Wiederholungen der DM an gleicher Stelle gab es 1990, 1996, 2000 und 2006. Den 100km-Lauf des SSC (Schulsportclub) gibt es sogar schon seit 1984, initiiert durch Harry Arndt – im Übrigen selbst ein 6:49h-Läufer über diese Distanz. Ein Jahr später wurde an gleicher Stelle auch die Deutsche Ultramarathon-Vereinigung DUV gegründet – ich befinde mich also im Wimbledon des 100km-Laufs.

Aber wer hat’s erfunden? Waren es die Schweizer 1959 in Biel, die 100km als Laufstrecke „erfunden“ haben? Jedenfalls ist dies noch immer die weltweite Institution des 100km-Laufs, bei der zu Hochzeiten fast 4.000 Teilnehmer registriert wurden! In Deutschland wurde diese Distanz populär vor allem durch den Lauf in Unna Ende der 60er. Auch dort hatte man in den besten Zeiten mehr als 1.000 Teilnehmer – leider gibt es diese Veranstaltung (wie einige andere auch) nicht mehr.

Zaghafte Versuche, die 100km als Disziplin bei den Bundesjugendspielen zu etablieren, scheiterten angeblich Anfang der 80er. Dies gilt übrigens genauso für Zehnkampf, Gewichtheben, 25km-Freiwasserschwimmen, Klippenspringen und Skispringen. Durch einen simplen Schreibfehler wurden dann angeblich 100m daraus.

Was ich aber sagen will: 100km sind keine Ausdauer-Trendsportart der Moderne wie der Ironman, sondern eher der Ironman der Vergangenheit. Die rückläufigen Teilnehmerzahlen beim 100km-Lauf liegen wohl vor allem am Ironman-Boom und den immer zahlreicher werdenden Ultra Trails mit Distanzen oberhalb von 100km. Wie wird das wohl weitergehen, wenn die Kenianer den Ironman entdecken?

An flachen 100ern fallen mir in Deutschland eigentlich nur noch der Leipziger 100er, Wuppertal (WHEW), Kienbaum und der Nachtlauf in Ulm (nicht ganz flach) ein. Bekannte internationale Veranstaltungen sind unter anderem Biel (CH), Faenza (I), Winschoten (NED) und Tourhout (B).

In Rodenbach gehen 2012 insgesamt 142 Figuren auf die 100km und weitere 44 auf die parallel stattfindenden 50km (wie ich gelernt habe – der „Bambini-Lauf“). Vergangenes Jahr in Jüterbog waren es gerade mal 48 Finisher! 2010 fiel die DM sogar (einmalig) komplett aus. Rodenbach genießt diesbezüglich immer noch einen Ausnahme-Status – das liegt vor allem am Ausrichter-Team um Harry Arndt und zum Anderen an der gnadenlos flachen Strecke, die zu Recht den Ruf einer Bestzeit-Strecke hat, da es sich um eine komplett asphaltierte, wind- und sonnengeschützte 10km-Runde im Wald handelt.

Halt – jetzt ganz ehrlich: Wer kennt wirklich die Deutschen Rekorde und Weltrekorde über 100km? Na also – ich kannte sie auch nicht. Sie lauten:

Weltrekorde:

  • 6:13:33h (Takahiro Sunada / JPN / 1998)
  • 6:33:11h (Tomoe Abe / JPN /2000)

Deutsche Rekorde:

  • 6:24:29h (Kazimierz Bak / 1994)
  • 7:18:57h (Birgit Lennartz / 1990)

Diese Zeiten sind offiziell anerkannte Weltrekorde und ich muss zugeben, dass mich dabei am meisten der Weltrekord bei den Frauen beeindruckt. Es gibt in der Tat bisher nur diese einzige (!) Zeit unter 7h bei den Frauen. Mit diesen 6:33h würde man aktuell ganz sicher Deutscher Meister bei den Männern. Wie mir das www verriet, gewann Tomoe Abe bei der Leichtathletik-WM 1993 in Stuttgart Bronze im Marathon, besitzt eine Marathon-PB von 2:26:09h, ist 1,49m groß und „wog“ zu leistungssportlichen Zeiten 38kg. Takahiro Sunada lief seine PB mit 2:10:07h beim Berlin-Marathon 2000 – und im gleichen Jahr 6:17:17h über 100km (quasi als Vorbereitung).

Speziell die Bestleistungen bei den Frauen scheinen mir Rekorde für die Ewigkeit zu sein – bei den Männern werden immer mal wieder Zeiten um 6:20h erzielt. Für die Topläufer sind die 7 Stunden die Schallmauer; bei den Hobbyläufern sind dies (fast logisch) die 10 Stunden.

Der Oberhammer ist aber die Tatsache, dass der Kenianische Rekord mit 6:39h (Erick Wainaina) eine glatte Viertelstunde über dem Deutschen Rekord und auch 6 Minuten über dem Weltrekord der Frauen liegt!

Aber wie brutal sind eigentlich 6:13h über 100km??? Das entspricht glatten 16,1 km/h oder 3:44 min/km – für mich völlig unvorstellbar. Ich schaffe diese Pace nicht mal über 10km. Halt – doch: Vielleicht bergab. Schon die Vorstellung, 10 Stunden lang einen 6er-Schnitt zu laufen, verpasst mir einen gefühlten Ganzkörperkrampf.

International gibt es eine große Tradition über die 100km-Distanz vor allem in Italien, USA und Japan. Eine besondere Hochburg des Ultralangstreckenlaufs ist jedoch Südafrika – dort rechnet man natürlich nicht in km (schon gar nicht in 100km), sondern referenziert alles auf den 90km langen Comrades-Lauf und den 56km langen Two-Oceans-Marathon. Das erkennt man ganz deutlich, wenn man die Bestenlisten über 50 und 100km in den gängigen Datenbanken durchstöbert – über 50km findet man ganz vorne fast ausschließlich Südafrikaner, deren Bestleistungen Durchgangszeiten beim Two-Oceans-Marathon sind (interessanterweise auch Athleten aus angrenzenden Ländern, die man nie erwartet hätte, wie z.B. Lesotho oder Zimbabwe).

So auch die 50km-Weltrekorde (2:43:38h – Thompson Magawana / 3:08:39h – Frith van der Merwe). Über 100km dominieren jedoch die genannten Staaten Italien, Japan, USA und einige Einzelgänger. Südafrikaner – Fehlanzeige! Die Weltmeistertitel über 100km gingen 2012 im italienischen Seregno an den zurzeit unschlagbaren Giorgio Calcaterra in 6:23:22h und Amy Sproston in 7:34:04h. Der aktuell stärkste deutsche 100km-Läufer André Collet war in Rodenbach ebenso wenig am Start wie Titelverteidigerin Pamela Veith.

Da ich, vereinslos laufend, sowieso nicht an Meisterschaften teilnehmen darf, sondern nur im offenen Lauf, trainiere ich so in Richtung 11 Stunden, was ich unter optimalen Bedingungen für möglich halte. Verdoppele ich meine Bestzeit über 50km, komme ich auf theoretisch mögliche 9:16h – das ist aber weit weg von der Realität. In mehreren Quellen finde ich übereinstimmend die „Formel“, wonach ein 100km-Debütant etwa seine 3-fache Marathon-Bestzeit brauchen wird – das wären aktuell etwa 10,5h. Ich bleibe lieber mal bei der Perspektive 11h – es gibt aber auch nicht so riesig viel Spielraum nach oben, denn das Zeitlimit in Rodenbach sind 13 Stunden. Ich darf also nach 70km auf keinen Fall einen Volkswandertag veranstalten.

Wären die 100km nicht nur Meisterschafts-Disziplin, sondern auch olympische Distanz, ständen die Aktien natürlich anders und ich würde alles auf Rio 2016 setzen. So jedenfalls mein Plan, nachdem ich am Vortag meine Startnummer 812 in Rodenbach abhole und die Örtlichkeiten inspiziere. Lustig sind die Warnschilder für Krötenwanderung an der Strecke (ein Schelm!).

Aufgrund des zu erwartenden deutlich gedrosseltem Tempo im Vergleich zum Marathon, versuche ich, an meiner Uhr das Datenfeld für die Pace in eines für Peace zu ändern. Aber trotz aller fauler Tricks misslingt mir dieses innovative Vorhaben – also doch Gas geben.

Es wird Zeit!

Dunkel ist es – verdammt dunkel! Es ist 4 Uhr am Samstagmorgen und die erste meiner 3 Weckeinrichtungen macht erfolgreich Radau. In Zeitlupe stehe ich auf und stelle die beiden anderen ab, bevor sie das Gleiche tun.

Erste Hürde geschafft – ich habe nicht verschlafen! Heute ist ein großer Tag – heute startet das neue „Wetten Dass?“ mit Markus Lanz. Meine Güte, was bin ich nervös. Nebenbei werde ich heute meinen ersten 100km-Lauf absolvieren und während ich mit einer Tasse Kaffee den notwendigen Koffein-Pegel aufbaue, keimt in mir die Frage auf, warum ich das nicht als Außenwette eingereicht habe. Mist! Und tatsächlich – einer Woche später joggt Lanz doch tatsächlich als Einlösung einer Wettschuld im Fortuna-Trikot die 40km von Düsseldorf nach Köln. Das Thema Sport ist ihm also nicht wirklich fremd. Aber welchen Namen hätte eigentlich meine Außenwette bekommen?

  1. 100km laufen und dabei E-Gitarre spielen (Highway to Hell – Die ganze Zeit!)
  2. 100km laufen ohne Luft holen
  3. 100km rückwärts laufen
  4. 100km über Scherben laufen

Also dann – Top die Wette gilt, ab ins Auto und auf nach Krötenbach. Dort ist es dunkel – verdammt dunkel. Der zweitlängste Tag des Jahres beginnt – der Untertitel „Längster Tag des Jahres“ ist ja schon durch den Frankfurt-Ironman belegt. (Nachtrag vom 17.06.2015: Top, die Wette gilt nicht mehr! Ab sofort am Samstagabend im Öffentlich-Rechtlichen nur noch das Super-duper-ultra-mega Festival der Volksmusik – kein Wetten Dass mehr)

Es ist 6 Uhr in der Frühe und ich habe noch eine Stunde Zeit bis zum Start. Das Waldstadion ist wahrscheinlich gerade der zweithellste Ort im Rhein-Main-Gebiet nach dem Flughafen. Dort befinden sich vor der Tribüne sinnvollerweise Start, Ziel und der Rundenbeginn. Auf der Gegengerade bauen die Cracks, die zumeist im Vereinsrudel auftreten, ihre Eigenverpflegungen auf – ich überlege kurz, ob ich meinen Grill daneben stellen soll. Wo ist eigentlich die Grillkohle?

Gedankenversunken gehe ich ein paar Runden auf der Bahn und stelle mich dann um kurz vor 7 Uhr im hinteren Teil des Feldes am Start auf. Was mir hier besonders auffällt, ist dieser Kompressionsklamotten-Fetisch – dagegen bin ich in meiner bescheidenen Art mal wieder völlig underdressed. Ich stelle mir vor, dass sich diese Leute nach 100km doch gar nicht mehr ausziehen können, sondern aus den Klamotten geschält werden müssen. Ich befürchte, der nächste Hype ist Laufen mit einer Bodypainting-Applikation – dadurch könnte man ja vielleicht 200g Gewicht sparen.

Aber egal, das ist nicht mein Bier. Apropos: Im Stadion steht ein Umkleidezelt, wo man seine Wechselklamotten und sonstige Ressourcen deponieren kann. Sehr sinnvoll – das! Die Dämmerung soll an diesem Tag übrigens exakt um 7 Uhr beginnen – also ich sehe davon noch nichts! Das liegt aber wohl an der sehr hellen Stadionbeleuchtung. Nachdem dann noch alle Top-Läufer (m/w) inklusive Bestleistungen, Hobbies, und-so-weiter, und-so-weiter, und-so-weiter und Fellfarbe der Hauskatze vorgestellt sind, kann es um exakt 7:06 Uhr endlich losgehen. Wir hamm doch keine Zeit!

Start: Peng! Vorne sprinten Einige weg, als hätten sie 100km mit 10km verwechselt. Ich habe gelesen, dass jeder 100km-Wettkampf einen „Clown“ hat, also Jemanden, der 30km lang volles Tempo läuft, um im Rampenlicht zu stehen. Dieser Jemand steigt dann angeblich meistens aus, indem er sich die Startnummer abnimmt und entgegengesetzt zur Laufrichtung zum Start zurückgeht. Dabei natürlich nicht zu vergessen die schmerzverzerrte Miene aufgrund eines bösen, fiesen Krampfes (im Ohrläppchen). Von dieser Kategorie habe ich aber Niemanden gesehen. Man darf auch nicht vergessen, dass zeitgleich mit dem 100km-Feld auch die 50km-Läufer an den Start gehen, die natürlich eine schnellere Pace vorlegen können. Das ist die gleiche Konstellation, die man hat, wenn man auf einem normalen Volkslauf 21,1km läuft und die 10km-Läufer gleichzeitig starten. Nur nicht verrückt machen lassen! Aber unabhängig davon schauen wir uns mal die 1.Runde im Detail an:

km 0,4: Zum ersten Mal geht es durch das Stadiontor mit dem aufgedruckten seligen Wunsch „Auf Wiedersehen“ auf geteerter Strecke ab in den Wald. Dieses Tor muss ich noch weitere 19 Mal durchlaufen! 10 Mal gegen den Uhrzeigersinn eine 10km-Runde auf komplett asphaltierter Strecke durch den Wald?? Brrrr!

km 1: Habe ich schon was über meine Kleiderordnung verloren? Falls nein – wegen der Kälte laufe ich die ersten 40km in langen Klamotten und plane dann einen Pitstop im Umkleidezelt. Der Chip für die Zeitmessung ist in der Startnummer integriert; also keine Fehler machen wie knicken oder so was.

km 2,2: Die erste offizielle Verpflegung. Ein allgemeines „Guten Morgen“ mit hohem Wiederholungsfaktor ist zu vernehmen. Dies ist die einzige Stelle der ganzen Runde, an der ich das Gefühl habe, es geht minimal bergab.

km 4,1: Was für ein einsamer Wald! Hier ist ja gar nichts los: Keine Hirsche, keine Wildschweine, keine Obi-Hörnchen. Die haben sich scheinbar heute alle einen Tag frei genommen. Nicht mal Pilze wachsen hier. Es geht nun nach einer Spitzkehre mit Kontrollpunkt wieder in die umgekehrte Richtung. Meine Güte – müssen diese Onkels etwa bis 20 Uhr dort ausharren? Ja – das müssen sie, denn es ist eine Meisterschaft. Zwischendurch fällt mir immer wieder ein mobiler Kontrolleur auf, der sich eine Notiz macht, wenn ich vorbei laufe. Aber was notiert er sich bloß?

  1. Startnummer 812 -> lahme Ente!
  2. Mein Autokennzeichen? Das kennt der doch gar nicht!
  3. Wäre ich doch zu Hause geblieben.
  4. Ich wollt, ich wär ein Huhn.
  5. Früher war Alles besser.

Fragen über Fragen. Jedenfalls legt dieser Mensch im Laufe des Tages bestimmt auch einige km zurück. Größten Respekt an alle Streckenposten und Offiziellen! Eine DM über 100km ist auch für die Organisatoren ein ganz hartes Brett, das es zu bohren gilt. Nach dem Kontrollpunkt beginnt dann eine 1,5km lange Gerade, die mir genau 60km lang eben vorkommen wird – danach nicht mehr.

km 5,6: Aha – hier nun also die 2. offizielle Verpflegungsstelle, an der es auch einen kleinen VIP-Bereich für Eigenverpflegung gibt. Strategisch sehr günstig diese VP, da an dieser T-Kreuzung eine Wendepunktstrecke beginnt und man bei km 8,3 wieder hier ist. Deshalb ernenne ich diese VP hiermit offiziell zur Tee-Kreuzung. Durch diese Wendepunktstrecke kann man sehr gut den Rennverlauf verfolgen, wie sich später zeigen wird. Leider ist sie nicht ganz eben, sondern steigt erst Mal leicht an. Übrigens: Um 7:32 Uhr (also jetzt) geht die Sonne auf – es bleiben genau 11:19h bis zum Sonnenuntergang um 18:51 Uhr. Also: Nicht trödeln!

km 7,2: Der Wendepunkt. Meine Güte – geht es denn noch einsamer für einen Streckenposten? Wenigstens hat der Kollege sein Auto dabei und kann Radio oder so was hören. Scheiß Job!

km 8.3: Zurück an der Verpflegung von km 5,6. Ich muss sagen, die offiziellen VP sind der Distanz entsprechend gut ausgestattet. Neben den variantenreichen Getränken gibt es Bananen, Kuchen, Kräcker, Salzgebäck (Yeah Baby!) und für später auch Salztabletten. Die Leute vom SSC haben wirklich Ahnung von 100km und geben sich den ganzen Tag viel Mühe, dem gebeutelten Ultraläufer alles Kulinarische zu bieten, was irgendwie geht.

km 10: Und da ist die erste Runde auch schon rum. Es tut ziemlich gut, nach 9,9km im Stadion wieder auf die Tartanbahn zu hüpfen! Das erste Mal passiere ich das Ziel nach 58:37 Minuten – eigentlich ein bisschen schneller als geplant, aber dazu später mehr. Ein bemerkenswerter Spruch – „schneller als geplant“ – oder? Ich bin dieses Jahr immerhin schon mal 43:30 Minuten gelaufen, aber da erkennt man mal die Relation von 100km zu 10km. Also dann: Auf der Gegengeraden gut verpflegen und ab auf die nächste Runde. Runden zählen muss man natürlich selber und später dann auch in den richtigen Zielkanal abbiegen. Was wäre das peinlich, man hat sich verzählt und ist 110km gelaufen. Hahaha!

Ich sehe noch ziemlich gut aus – hoffe ich zumindest! Jetzt ist aber mal Zeit, über die heutige Strategie (äh: was?) zu reden, denn in 3 Wochen ist der hochheilige Frankfurt-Marathon; da will ich ja trotz 100km gut aussehen. Was soll ich also machen? Versuchen, die 100km komplett gleichmäßig durchlaufen (dafür fehlt es wahrscheinlich an Erfahrung) oder eine andere Einteilung? Ich entscheide mich nach Bauchgefühl für Variante B und versuche, 40km lang in einer seichten 6 Minuten-Pace zu laufen, um danach in den Ultralangstreckenmodus zu verlangsamen. Das ist im Bereich Taktik so eine Art Schaf im Wolfspelz.

km 14: Kurz vor der Spitzkehre – diese Stelle lege ich jetzt einfach als den G-Punkt fest, also die Stelle, an der ich in jeder Runde meine Gels zu mir nehme. Dadurch kann ich auch die doofe klebrige Verpackung an der nächsten VP liegen lassen. Viele lassen den Müll an den km-Schildern liegen – ok, das ist auch irgendwie durchdacht, aber ich liefere das lieber persönlich ab. Also wie gesagt – das erste Gel muss nach 14km rein und dieses Mal funktioniert das auch bis km 84, bis mein Magen in den Sperrmodus geht. Immerhin schon 30km mehr als beim Rennsteig.

km 15,6: Woran merkt man, dass Einen der Rennsteiglauf nachhaltig geflasht hat? Man fragt an der VP nach Haferschleim. Kann mir nicht passieren: Ich habe mir rechtzeitig eine Haferschleim-Allergie zugelegt.

Km 20: Erfreut stelle ich fest, dass die 2.Runde 58:25 Minuten gedauert hat, also praktisch genauso lang wie die Erste.

km 21: Meine einzige flüssige Stoffwechselpause des ganzen Laufs. Es gibt keinerlei aufgestellte Toiletten – der Wald muss genügen. Die Herrentoilette ist immer auf der linken Seite der Strecke, die Damentoilette immer auf der rechten Seite. Dies führt natürlich an Wendepunkt-Strecken zu leichten Irritationen, war aber hier in Rodenbach kein wirkliches Problem. Mir wurde schon vor dem Rennsteig empfohlen, auf solchen Distanzen immer ein wenig Toilettenpapier für den Fall mitzunehmen, dass der Verdauungstrakt eine totale Havarie erleidet.

km 21,1: Der erste von 4,7 Halbmarathons ist rum. Da ich ja genug Zeit habe, fällt mir gerade mein allererster HM ein, den ich 2008 (noch völlig unkoordiniert) in Offenbach absolvierte: Dort hatte ich das Ziel, unter 2 Stunden zu bleiben. Dank einer legendären Beschleunigung auf der Zielgeraden auf doppelte Lichtgeschwindigkeit schaffte ich das auch – in genau 1:59:59h. Das war das Zeichen für mich, das was geht. Ich erinnere mich heute noch an den Satz des Zeitnehmers: „Du hast es noch geschafft“. Seitdem gilt der Satz „Zielgeraden sind lang“ als § 2 meiner Laufordnung. § 1 lautet übrigens „Niemals den Ausredekatalog benutzen“.

km 23: Swooosh! Was war das denn? Ein Typ in Orange, begleitet von einem Radfahrer überholt mich genau bei km 23. Ich werde zum ersten Mal überrundet (Heul!) – es ist der Niederländer Jan-Albert Lantink, ein 54 Jahre junger Läufer, der ganz offensichtlich das Rennen gewinnen und zum ersten Mal die 7 Stunden-Marke knacken will. In diesem Fall will er seine Karriere über 100km beenden. Da ihm Beides gelingt, ist nun die Frage, ob er das einhält.

So was! Ich laufe 23km und ein anderer Onkel ist schon bei 33km!? Ich muss wohl noch ein wenig mehr trainieren! Danach vergeht einige Zeit ohne weitere Überrundung. Mein lieber Herr Gesangverein – der geht verdammt schnell an!

km 25: Da das Alles aber keine Bedeutung für die Deutschen Meisterschaften hat, ist die erste wichtige Überrundung bei km 25 – ich werde von Jörg Hooß überrundet, der immerhin eine PB von 6:59h hat und auch schon Deutscher Meister war.

25km sind eine merkwürdige Distanz – das ist im Prinzip der Halbmarathon der 70er und 80er, als ein Volkslauf im Durchschnitt aus einem 10km-Lauf und einem 25km-Lauf bestand (habe ich so gelesen). Heutzutage gibt es diese Distanz nur noch sehr selten – ich war aber schon mal in Seligenstadt und in Bellheim 25km unterwegs. Natürlich ist dabei 2h eine deutlich härtere Zeit als über den HM. Zum ersten Mal gelang mir das in 1:59h beim Frankfurt-Marathon 2011. Oft werden 25km als Teildistanz von 50km-Läufen angeboten (Eschollbrücken, Albmarathon).

km 26: Der Top-Favorit und 8-fache Deutsche Meister Michael Sommer überrundet mich. Über seinen aktuellen Rückstand soll man sich keine Gedanken machen – er gewinnt angeblich immer auf der 2.Hälfte.

Eigentlich läuft es ziemlich gut bis hierher – die km-Schilder kommen mir ziemlich schnell entgegen geflogen. Ist eine 10km-Runde für den Kopf also doch besser als eine Landkreis-Expedition wie in Biel?

km 30: Nächster Rundendurchlauf nach 58:39 Minuten – ich fühle mich ziemlich gut. 30km sind auch so eine Distanz, die man ganz selten findet. Ich kenne nur die Läufe in Friedberg (Wintersteinlauf), Garbenteich und Breitungen (Plesslauf) in Thüringen. Das Verrückte ist, das beide hessischen Läufe die Autobahn A5 über- bzw. unterqueren. In guter Form brauche ich für 30km so etwa 2:20h.

km 35: Nein – jetzt kommt ausnahmsweise nichts über meine Erlebnisse an der VP, sondern ich stelle fest, dass ich einen markanten Punkt erreicht habe, nämlich den so genannten Greif-Punkt (schon wieder so ein G-Punkt – so langsam wird mir das unheimlich). Nach dessen Trainingsmethoden, die so gar nichts für mich sind, müsste ich spätestens jetzt in die 65km Endbeschleunigung starten. Mache ich aber nicht – das überlasse ich anderen! Ich beginne bei km 40 eher die Entschleunigung.

Der Lauf hat in dieser Phase ziemlich viel Abwechslung für mich – ich laufe abwechselnd auf der linken und dann auf der rechten Straßenseite. Wer hatte eigentlich wann mal zu viel Geld und musste diese Runde im Rodenbacher Wald asphaltieren? Das ist der einzige plausible Grund, denn für Inliner oder so was ist der Belag mit zu vielen Wurzeln durchzogen. Aber es ist auch der Grund, warum hier 1993 Aleksandr Masarygin mit 6:22:19h die schnellste jemals gelaufene Zeit in Deutschland schaffte. Der Streckenrekord bei den Damen steht ebenfalls seit 1993 bei 7:44:43h, gelaufen durch Valentina Lyakhova – die Weltmeisterin über 100km aus dem Jahr 1997.

km 40: So – jetzt ist Zeit für den Pitstop im Umkleidezelt. Ich nehme mir ziemlich viel Zeit, trockne mich ab, fülle Gels nach, hänge meine Winterklamotten zum Trocknen auf, löse schnell ein Kreuzworträtsel, schreibe meine Lohnsteuererklärung und laufe wieder los. Während ich im Zelt bin, läuft die 3-köpfige Spitze im Damenrennen im Stadion durch. Durch den Streckensprecher erfahre ich nun auch, wie das 50km-Rennen ausgegangen ist – das ist aber heute mal nebensächlich, denn der 100er ist deutlich stärker besetzt. Für ein Nickerchen im Zelt war leider keine Zeit – schade!

Huch – plötzlich ein ganz anderes Gefühl in Sommerklamotten. Na dann weiter auf meiner Mission „Laufen statt Saufen“. Nach dieser Umkleideaktion drossele ich das Tempo deutlich.

km 42: Der Kollege in Orange überrundet mich schon wieder. Warum beeilt der sich so? In der Sportschau kommen doch heute sowieso nur langweilige Spiele.

km 42,195: Tja – einer der belanglosesten Marathon-Durchläufe, an den ich mich erinnere. Nicht markiert, keine Zeitnahme, keine Emotionen, nichts! Also weiter.

Dann kann ich ja was zum Besten geben, was mir die ganzen letzten Tage Sorgen machte: Im Handbuch meiner GPS-Uhr steht, dass die Akkustandzeit unter normalen Bedingungen 10 Stunden beträgt (was ist eigentlich „normal“?). Das ist natürlich eine Zeit, die ich heute nicht mal ansatzweise schaffen werde. Maßnahmen zum Aufladen während des Wettkampfs wie zum Beispiel an der Uhr rubbeln oder nur durch die Sonne laufen halte ich nicht für praxisgerecht. Ich hoffe jedoch auf ein Wunder und stelle den Displaykontrast so niedrig, wie gerade noch brauchbar (35%). Zusätzlich habe ich eine alte 10€-Armbanduhr dabei, falls es doch nicht reicht. Dazu später mehr.

km 47: Auf der Wendepunktstrecke kann ich die Spitze des Damenrennens beobachten und erkenne sofort, dass das wohl eine spannende Entscheidung zwischen Tanja Hooß und Branka Hajek werden wird.

km 50: Die mathematische Halbzeit ist geschafft und sieh mal einer an – der Eine oder Andere, den ich für einen 100km-Starter hielt, biegt in den linken Zielkanal ab, das Ziel des 50km-Laufs. Soso! Aber der Veranstalter hat das ja als Option offen gehalten, damit man sich im 50km-Cup des DUV werten lassen kann. Rodenbach ist dabei nämlich 2012 zusätzlicher Wertungslauf. Somit finden in diesem Jahr 4 von 7 Läufen in Hessen statt. Etwa eine typisch hessische Disziplin? Wie Ebbelwoi trinken oder Dumm Zeuch babbeln?

Meine bisherigen 50er in Rodgau und Eschollbrücken wurden als 10 Runden zu je 5km ausgetragen. Die Rundenanzahl ist ja immerhin auch hier die Gleiche… Es wird langsam härter.

km 52: Hiermit überlaufe ich meine längste Distanz der Vorbereitung und suche nun das „Endlostempo“, das ich zur Not bis Weihnachten halten kann (2018 meine ich). Ich lande so im Bereich 7:30 min/km. Der Kampf, angesetzt auf 10 Runden, beginnt.

So langsam merke ich die Distanz – mein geschundener Körper verspürt eine leichte isotonische Krise. Also dann noch etwas mehr essen und trinken als bisher. Erstaunlicherweise vertrage ich die Bananen immer noch ziemlich gut – beim Rennsteig war an dieser Stelle Ende mit Affenwurst mampfen.

km 55,6: An der VP nehme ich mir ab sofort stetig mehr Salzgebäck mit auf die Strecke; eine lineare Abhängigkeit zur gelaufenen Distanz ist klar zu erkennen. Salzbrezeln schmecken in diesem Zustand so was von genial! Gegenüber den angebotenen Salztabletten habe ich ein wenig Skepsis.

km 57,805: Yeah Baby! Es sind deutlich über 6 Stunden gelaufen, aber nur noch ein einziger Marathon liegt vor mir. Popelige 42,195km! Der Galgenhumor nimmt zu.

Der entscheidende Gedanke, der mich durch diese Phase rettet, ist die Motivation, diesen 100er als letzten langen Lauf vor Frankfurt zu betrachten. Egal wie absurd das ist. Heute Abend liege ich in der Badewanne und das Training für eine Topzeit beim Marathon ist im Kasten!

km 60: Die vergangene Runde bin ich in 71 Minuten gelaufen; das passt. Ich merke allerdings, dass meine Muskulatur langsam immer mehr angegriffen ist. Krämpfe habe ich jedoch keine. Ab hier ändere ich meine Vorgehensweise noch mal: Ich trabe im Endlostempo daher und erlaube mir, an den VP kurz anzuhalten und 1 Minute zu gehen, um dabei zu essen. Dabei erholt sich die Muskulatur doch so gut, dass man wieder bis zur nächsten VP laufen kann. Der schwierigste Moment ist dabei natürlich das sich ewig wiederholende Loslaufen. Aber das geht. Ich darf halt nicht in längere ungeplante Gehpausen verfallen – dafür ist das Zeitlimit von 13 Stunden für mich zu knapp. Deshalb überwinde ich diesen Schmerz dann doch immer wieder. Die Auswertung meiner Uhr zeigt, dass ich insgesamt auf etwa 5 gegangene Kilometer komme.

Ab km 60 wird im Stadion neben dem normalen Rundendurchlauf für Einige der „Aufgabe-Tisch“ auf der Tribünenseite relevant. Wer nach 60, 70, 80 oder 90 km nicht mehr kann oder will, darf dort die weiße Fahne heben und wird für die jeweilige Strecke in die Ergebnisliste aufgenommen. Für mich ist das jedoch ganz klar eine No-go-Area. Wer nach 30 oder 40km schon dort hin läuft, hat eines der folgenden Probleme:

  1. Mangelnde Fitness (kann passieren)
  2. Ausschreibung nicht gelesen (darf nicht passieren)
  3. Zählschwäche (was ist denn da passiert?)
  4. Delirium (so früh schon?)

km 63,3: Vergangenes Jahr, ich glaube es war beim 44km langen Kraichgau-Lauf, debattierten 2 vor mir laufende Kollegen über die Thematik 100km. Ich zitiere: „Wer Marathon laufen kann, kann auch 100km laufen – glaub mir!“. Es beschleichen mich gerade minimale Zweifel an dieser These…

Ich habe jetzt genau 3 Halbmarathons hinter mich gebracht, befinde mich mental ziemlich unten und brauche jetzt Musik. Also Freunde des Longdrinks – eigentlich bin ich Liebhaber elektronischer Musik, aber im Moment dröhnen Marilyn Manson, Slipknot und Ähnliches durch meinen Schädel. Zum Glück! Von Kraftwerks „Autobahn“ bin ich meilenweit entfernt.

Die Phase 50-70km ist die Schwierigste im ganzen Rennen – es ist irgendwie schon weit weg von den üblichen Meilensteinen Halbmarathon oder Marathon aber immer noch genauso weit weg vom Ziel. Es beginnt die Zeit des Deliriums, wobei ich aber immer noch so klar bin, dass ich mich genau so verpflege, wie am Anfang festgelegt. Es war absolut richtig und wichtig, mir in der ersten Runde feste Punkte für regelmäßige Prozeduren zu suchen.

Abseits dieser positiven Aspekte prägt sich bei mir gerade eine Gleichgültigkeit gegenüber der angestrebten Endzeit von 11h aus. Einen weiteren Weichei-Punkt an mich.

km 67,2: Der Kollege am Wendepunkt hat sein Radio ziemlich laut und es läuft die berüchtigte Bundesliga-Konferenz. Ich erkundige mich kurz nach den Zwischenständen und laufe dann weiter. Das lenkt mich ein wenig ab. Swooosh! Wer war das denn? Ach ja – von dem habe ich gelesen: Es ist Dr. Bernd Juckel, ein Masters-Läufer der M60, der bei der letztjährigen DM in Jüterbog den Altersklassen-Weltrekord aufgestellt hat. Dieser wurde jedoch nicht offiziell anerkannt, weil die Strecke nicht das entsprechende Protokoll hatte. Dementsprechend legt er dieses Jahr eine noch schärfere Gangart vor und schafft sein Ziel in sagenhaften 7:53:42h. Das gleiche Kunststück gelingt Marion Braun in der W55 in 8:39:51h. Respekt! Ich laufe also weiter mit dem aufkeimenden Gefühl, klein und schwach zu sein.

km 70: Halbzeit! Nicht mathematisch, aber gefühlt. Jetzt beginnt also der 100km-Lauf erst so richtig. Vor 2 Jahren beim Swiss Alpine in Davos hörte ich der Unterhaltung von 2 offensichtlichen Experten zu: „Die erste Hälfte beim 100km-Lauf ist 70km lang, die zweite noch viel länger“. Gut – diesen Spruch kennt man; es gibt ihn in anderen Skalierungen natürlich auch für Marathon & Co. Ach, bevor ich es vergesse: Die Schnellsten bei den Männern sind natürlich schon im Ziel und geduscht:

  1. Jan-Albert Lantink 6:56:58h
  2. Michael Sommer 7:12:34h (Deutscher Meister)
  3. Hirofumi Oka 7:14:03h
  4. Jörg Hooß 7:23:26h (2.DM)
  5. Bendikt Straetling 7:31:50h (3.DM)
  6. Jan-Hendrik Hans 7:38:13h (Hessischer Meister)

Es dominieren also die älteren Semester – der einzige Ausreißer ist Jan-Hendrik Hans, ein 25-jähriger Läufer. Da hat Michael Sommer die Sache also doch wieder auf der 2.Hälfte geregelt – Erfahrung ist durch nichts zu ersetzen. Man kann aber doch feststellen, dass die 7 Stunden-Marke nicht mehr so leicht erreicht wird, wie noch in den 80ern und 90ern. Das allgemeine Niveau auf den 100km sinkt insgesamt dann doch; das gilt auch für die Siegerzeiten, die man für die DM anbieten muss. Jetzt aber wieder 3 Leistungsklassen nach unten zu den C-Promis, also zu mir:

km 72,7: Ich nenne es mal den Rennsteig-Punkt. Es ist die längste Strecke, die ich bisher gelaufen bin. Hier in Rodenbach bin ich nach 72km deutlich weniger verschlissen als beim Rennsteig-Hardcore-Cross-Strongman-Selftranscendence-ToughMother-Himalaya-Up&Downrun. Ist ja klar: Es fehlen die Berge und der Asphalt macht mir dank Krafttraining und katzenartiger Gewandtheit nichts aus. Ich betrete an dieser Stelle also mal wieder 27,3km Neuland.

Und da wird es ganz plötzlich hektisch um mich herum, denn die Damenspitze ist in der letzten Runde. Es führt Tanja Hooß mit ganz knappem Vorsprung vor Branka Hajek, die sich partout nicht geschlagen geben will. Im Ziel entscheidet nach 100km irrwitzigerweise der Sprint mit 13 Sekunden zugunsten von Tanja Hooß:

  1. Tanja Hooß 8:12:16h
  2. Branka Hajek 8:12:29h
  3. Marion Braun 8:39:51h

Die internationale Beteiligung bei den Damen ist irgendwie nicht wirklich vorhanden und so entspricht der Zieleinlauf auch dem Ergebnis der DM.

Ich warte eigentlich nicht wirklich auf den Mann mit dem Hammer, sondern auf seinen Bruder – den mit dem Vorschlaghammer. Verrückterweise lassen mich die beiden heute in Ruhe.

km 75,6: Was soll ich sagen – ich mampfe gerade die letzte Banane des Tages (danach geht nix mehr) und natürlich muss es jetzt noch anfangen zu pissen. Warum zum Teufel müssen die Langsamen auch noch zusätzlich leiden!!?? Zum Glück ist es kein Schauer, sondern leichter Nieselregen, aber das ist mir sowieso scheißegal. Am Rennsteig stauchte mir nach der jetzigen Laufzeit jeder verdammte Schritt in den Körper, weil die Muskulatur total im Eimer war. Hier in Rodenbach ist auf meine Muskulatur und den Magen-Darm-Trakt absolut Verlass.

km 80: Also eigentlich steigt bei mir die Euphorie so langsam an: Auf meiner Uhr stehen Zahlen, die ich da noch nie gesehen habe. Aber es ist eine fürchterlich schmerzhafte Phase, in der ich gerade stecke. Es wird jetzt hart, verdammt hart. Ich futtere an der VP im Stadion so viele Salzbrezeln, wie mein Magenvolumen halt zulässt. Am Stadionauslauf prangert „Auf Wiedersehen“ (Heul!). Dann will ich mich ein Zuschauer aufmuntern: „Letzte Runde?!“ „Nein, noch 2“ entgegne ich (Doppelheul!). War lieb gemeint, trifft mich aber voll in die Magengrube.

km 81: Es regnet.

km 82: Es regnet.

km 83: Es regnet.

km 84,39: Zwei Marathons sind rum. Das ist ein Meilenstein, so schwer wie ein Hinkelstein. Piiiiiieep! Oh nein – meine GPS-Uhr meldet wie angekündigt nach 10h einen schwachen Batteriestatus. Dann wird das wohl nichts werden mit einer kompletten Aufzeichnung des Laufs. Mist! Aber O Wunder – die Turbomeise (so heißt mein Profil) hält tatsächlich bis ins Ziel durch. Was bin ich stolz auf das Ding. Als ich das Teil vor 1 Jahr gekauft habe, dachte ich nicht im Entferntesten an einen 100km-Lauf. So ändern sich Perspektiven.

Ich entriegele mein Zäpfchen und würge mir das letzte meiner 8 Gels rein (was für ein Kampf!) – danach gehen nur noch Salzbrezeln.

km 85,6: An der VP sind die Eigenverpflegungen mittlerweile abgebaut. Logisch – die Cracks sind ja alle im Ziel. Aber hier wird es jetzt echt ernst: Ich halte an der VP an und kann nur mit allergrößter Mühe das Gleichgewicht halten. Ich wanke! Es zieht mich irgendwie zur Seite weg, etwa wie bei einem Kirmes-Karussell. Dies sollte die einzige ernsthafte Krise sein, zumal auch der erste Oberschenkelkrampf zuschlägt. Also noch mehr Salzbrezeln futtern.

Aber ich schaffe es, wieder anzutraben. Aufgeben ist nicht drin! Das gibt es nicht! Was mich aufrecht hält, ist die Tatsache, dass ich mittlerweile ein so großes Polster auf das 13h-Zeitlimit herausgelaufen habe, dass ich auch komplett gehen könnte. Aber gehen bei dem Regen? Bei der Kälte??

km 90: Der letzte, der elendig letzte Stadiondurchlauf: Von der Tribüne ruft Jemand genau das, was mir vorhin bewusst wurde, nämlich das ich rein von der Zeit komplett gehen könnte. Ich trabe jetzt seit Ewigkeiten 8 min/km und das lässt auch nicht nach – dies scheint das Endlostempo zu sein, das die Cracks meinen, wenn sie Dich mit „Ein bisschen geht immer“ aufmuntern. Was mir nun immer bewusster wird: Der Mythos dieses Laufes ist die blanke Zahl 100 – es geht um das Bezwingen dieser Kopfgrenze.

km 90,4: Zum letzten Mal „Auf Wiedersehen“ und ab in den mittlerweile dunklen und ziemlich einsamen Wald. Wäre es kein 100km-Lauf, es wäre gruselig und unheimlich – eine echte Albtraumkulisse. In meinen Halluzinationen tauchen immer öfter Werwölfe, Einhörner und Ähnliches auf – es wird endlich Zeit, ins Ziel zu kommen! Ich freue mich so, wenn mich mal Jemand überholt (ist das nicht bekloppt!), dann ist man wenigstens nicht so allein.

km 92,2: Ich bedanke mich an der VP für das Durchhaltevermögen der Leute, sinniere noch ein bisschen über den Fluglärm, der auch Hanau neuerdings beschallt und laufe weiter. Noch knapp 8 km bis Hollywood.

km 94,1: Es geht auf die 1,5km lange Gerade, die eigentlich fast eben ist, aber jetzt eine gefühlte Eiger-Nordwand. Ich gebe es zu: Hier bin ich knapp 1km lang gegangen bis zur VP.

km 95,6: Mein Gott, was tun mir die Leute an der VP leid – es ist komplett dunkel, einsam, es regnet. Ich unterhalte mich ein wenig mit ihnen, bedanke mich, nehme einen letzten Tee und trabe wieder los (es geht tatsächlich noch).

km 95,7: Das ist der geilste Moment neben dem Zieleinlauf – mein Hirn schaltet von der einen auf die andere Sekunde in den Geschafft!-Modus. Literweise Endorphine durchströmen die restlichen intakten Funktionen meines Körpers (so etwa 2 bis 3). Auf der Wendepunktstrecke begegnen mir Leute, die gleich ins Ziel kommen. Man beglückwünscht sich, muntert sich auf. Es ist sowieso ein sehr faires, sportliches Klima.

km 97,2: Ob man es glauben will oder nicht: Da das Polster für eine Zeit <12h nicht mehr sehr groß ist, entschließt sich mein Kampfgeist dazu, noch einen Endspurt hinzulegen. Und tatsächlich: Bis kurz vor das Ziel „zünde“ ich noch mal auf 6:30 min/km.

km 98,3: Die letzte, die allerletzte VP. Noch schnell Tschüß und Danke sagen, einen allerletzten Cola-Whisky ohne Whisky geschlürft und ab in Richtung Stadion.

km 99: Es ist stockdunkel, das Schild bei km 99 ist kaum noch zu sehen. Wie soll das eigentlich weiter gehen? Der Lauf dauert ja noch über 1 Stunde und man sieht praktisch gar nichts mehr. Ich jedenfalls fege in Richtung Ziel.

km 99,1: Ich laufe auf die geilste Gerade der Welt – am Ende sieht man den Waldrand und dort das hell erleuchtete Stadion von Rodenbach. Und das ist jetzt mal keine Halluzination! Ich schaffe das!

km 99,5: Raus aus dem Wald und rüber zum Eingang des Stadions. Die 12 Stunden werde ich deutlich unterbieten – es sei denn, ich pflücke noch einen Korb Pilze.

km 99,8: Ein letztes Mal durch das Stadiontor.

km 99,9: Mein rechter Fuß betritt die Tartanbahn – welch eine Wohltat. Ich federe in Richtung des Zielkanals auf der linken Seite. Applaus von der Tribüne.

km 99,999: Es ist verblüffend genau 19 Uhr am 6.Oktober 2012 in Hanau-Rodenbach. Die Zeit hält an. Es liegen 99.999 verdammte Meter hinter mir. Ich bin noch einen einzigen Schritt davon entfernt, etwas zu schaffen, an das ich vor 2 Jahren noch nicht mal ansatzweise zu denken wagte. Es ist ein ganz kleiner und extrem unwichtiger Schritt für die Menschheit, aber ein ganz großer für mich und den mache ich – jetzt!

100km in 11:54:46h – GESCHAFFT!

Ich nehme meinen Finisher-Pokal entgegen, ziehe mir was Warmes an und fahre nach Hause. Ansonsten ist nichts mehr zu sagen außer (Achtung Zitat Giovanni Trappatoni) – ich habe fertig!

Nachwort

Wie man grob erahnen kann, war die Badewanne zu Hause die Schönste aller Zeiten. Dort war Zeit, noch mal ganz kurz den Tag zu reflektieren: Ich belegte Platz 106 von 142 Startern auf den 100km. 44 weitere Sportler sind geplant oder ungeplant ins 50km-Ziel abgebogen und haben sich dort werten lassen. Meine Rundenzeiten, die den Lauf deutlich sichtbar in 3 Phasen unterteilen, lauteten:

  1. 58:37 Minuten
  2. 58:25 Minuten
  3. 58:39 Minuten
  4. 61:30 Minuten
  5. 71:47 Minuten
  6. 72:35 Minuten
  7. 77:46 Minuten
  8. 83:55 Minuten
  9. 85:29 Minuten
  10. 85:59 Minuten

Das macht eine Pace von 7:08 min/km bzw. einen Schnitt von 8,4 km/h. Mein Rückstand auf den Sieger Jan-Albert Lantink betrug nur 4:58 Stunden – das sind gerade mal 20 Saunagänge ohne Aufguss. An Energie habe ich 8.730 Kalorien verbraten – also etwa 4,5 Tagesrationen oder 15 Thüringer Bratwürste mit Brötchen und Senf.

Bei einem Konsum von 8 Gels war ein nachhaltiger Gewichtsverlust von 3kg zu verzeichnen. Über Fettverbrennung brauchen wir nicht mehr reden – davon habe ich keines mehr. Deshalb ernährte ich mich nach dem Lauf meistens im idealen 2:1-Verhältnis von Currywurst zu Pommes. Der Restbestand an Zehennägeln (oha – ein verdammt harter Übergang) war erstaunlicherweise 10, Steine im Schuh hatte ich keine. Es war ein einziger Krampf inklusive Gleichgewichtsstörung nach 85km zu verzeichnen und verrückterweise hatte ich nach dem Lauf überhaupt keine Kopfschmerzen. Was soll auch wehtun, wenn alles leer ist?

Jetzt noch kurz zur Einordnung der ganzen Sache. Der Vergleich Rennsteig vs. Rodenbach hinkt natürlich ein wenig – das ist, als will man eine Bratwurst mit einer Rindswurst vergleichen. Die Berge am Rennsteig machen die Sache natürlich deutlich belastender als die reine Distanz 72,7km. Lege ich die Schmerzen in den Oberschenkeln als qualitativen Parameter zu Grunde, lautet meine Einschätzung, dass der Rennsteig etwa 85km flach entspricht. Demzufolge empfand ich die 100km in Rodenbach als etwas härter – dies spiegelt sich auch im Kalorien-Bratwurst-Dreisatz 8.730 / 6.200 ≈ 15 / 11 wieder. Unabhängig davon kann ich bestätigen, dass der Umstieg von Marathon auf 100km deutlich leichter ist, als die Steigerung von HM auf Marathon. Wer Marathon laufen kann, schafft auch die 100km – man muss es wollen!

Den Vergleich Ironman vs. 100km kann ich nur mathematisch aufstellen: Legt man die aktuellen Weltrekorde bei den Männern zu Grunde, lautet das Verhältnis 7:41h zu 6:13h. Somit wäre der Ironman um den Faktor 1,23 härter als 100km Laufen. Aber wie es wirklich ist??? Ist eine komplexe Sportart einfacher oder schwerer? Fragen über Fragen.

3 Wochen nach diesen 100km bin ich den (Arctic-) Frankfurt-Marathon in 3:23h gelaufen, also 5 Minuten schneller als im Vorjahr. Also war dieses Vorbereitungs-„Konzept“ nicht komplett daneben.

Fazit

Diese 100km waren körperlich und mental eine eisenharte Sache. Ich würde aber sagen, dass die mentale Stärke deutlich wichtiger ist, so lange die Fitness für 60km reicht. Man muss es schaffen, so lange wie möglich Gehpausen zu vermeiden – sobald man damit anfängt, wird die Zielzeit exponentiell schlechter. Deshalb hat der längste Lauf in der Vorbereitung bei Distanzen > 50km meiner Meinung nach dann doch eine größere Bedeutung im Vergleich zu den Wochenkilometern. Dieser Effekt kommt beim Rennsteig wegen der vielen Anstiege auf der zweiten Streckenhälfte noch deutlicher zum Tragen. Wer dort ab km 40 gehen muss, verliert ohne Probleme 1 bis 2 Stunden auf Diejenigen, die es schaffen, durchzulaufen.

Im äußerst empfehlenswerten 100km-Trainingsplan auf Laufreport sprang mir der Satz „Bei 100km kommt es nicht auf die Tagesform an, sondern auf die Jahresform“ ins Gesicht. Dem stimme ich nach der Erfahrung Rodenbach zu 100% zu!

Ohne das nachfolgende Ziel PB beim Frankfurt-Marathon wäre es vor Allem mental viel schwerer geworden. Extrem wichtig ist es, sich konsequent und regelmäßig zu ernähren – dies muss in Fleisch und Blut übergehen.

Äußerst lobenswert ist das unfassbare Durchhaltevermögen der Veranstalter und Helfer vom SSC, vor allem als es am Nachmittag begann zu regnen und die letzten Stunden in kompletter Dunkelheit durchgezogen werden mussten. Man merkte deutlich, dass hier viel Erfahrung und Herzblut vorhanden ist. Ähnliches gilt für die „Familie“ der Ultraläufer – der Zusammenhalt und Respekt ist deutlich größer im Vergleich zu anderen Disziplinen. Man kennt sich, man schätzt sich, man respektiert die Leistung des anderen. Selten wurde ich von Mitläufern und Helfern so aufgemuntert, wie in der schweren Phase, als noch 30km zu laufen waren, es regnete und dunkel und einsam wurde.

Ich kann mir durchaus vorstellen, wieder 100km anzupacken. Leider sind die Perspektiven so, dass es diese Distanz in Rodenbach erst mal nicht mehr geben wird. Aber es darf auch gerne ein 100km-Trail sein. Jedenfalls war es im Olympiajahr 2012 eine sehr intensive Erfahrung, die einige Dinge der Vergangenheit in ein anderes Licht gesetzt hat.

Ein hoch auf die Salzbrezeln!

Christian Meise

Christian Meise

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