Sneak Preview – Frankfurt Marathon 2015

Frankfurt – die City am Main. Schauplatz des größten Sportspektakels aller Zeiten. Bühne für die unglaublichsten Wetten seit der Erfindung der elektrischen Zahnbürste. Im Schatten des Hammermanns begleitet das größte Runners-Team ever Arne Gabius auf dem Weg zum Deutschen Rekord im Marathon.

Zur Einstimmung auf den Lauf des Jahrtausends hier die nervenzerfetzenden Stories der beiden vergangenen Jahre. 2013 als Iron-Helmut und ich antraten, um das Ding zu gewinnen, lief es für uns beide – na ja – gelinde gesagt suboptimal:

Frankfurt-Marathon 2013
(Ein Tief namens Christian)

Was für ein Wetter! Es ist Samstag, die Sonne scheint, es hat 20°C everywhere in Germany – es ist irgendwie ungewöhnlich schön für Mitte Oktober. Merkwürdig schön. Verdächtig schön. Fast schon Cabrio-Wetter. Heute treffe ich mich mit meinem ehemaligen Studi-Kumpel Andreas zu unserem traditionellen 10km-Wettkampf in Mörfelden-Walldorf, ganz in der Nähe des Frankfurter Flughafens. Es soll eine Woche vor dem Frankfurt-Marathon der letzte Leistungstest sein und außerdem ist es das eine Mal im Jahr, wo wir es zu 100% schaffen, uns mal wieder zu treffen – nach dem Studium verteilt sich das Rudel eben wieder in alle Windrichtungen.

Das rockt ja wie Sau hier! Nach 42:29 Minuten bin ich im Ziel – so schnell war ich über 10km noch nie. Natürlich knöpft er mir trotzdem wieder zweieinhalb Minuten ab und bleibt sogar unter 40 Minuten. Logisch – er ist ein Ass und hat eine 36er-Bestzeit. Nichts desto trotz bin ich hochzufrieden und kann den kommenden Sonntag kaum noch erwarten. 3:15h soll es über die 42,195km dieses Mal sein – das wären 8 Minuten schneller als 2012. Da ich aber 3 Monate lang 4 bis 5 mal pro Woche trainiert habe, halte ich diese Zeit für möglich.

Leider haben mir irgendwelche mutierten Drecksviren Ende September eine Erkältung verpasst, wie ich sie schon Jahrzehnte lang nicht mehr hatte. Deshalb konnte ich 10 Tage lang nicht so trainieren, wie ich wollte – vor Allem die Tempoeinheiten haben darunter gelitten. Anyway – die Langen Läufe haben gepasst und deshalb dürfte das keinen übermäßig negativen Effekt gehabt haben.

Jedoch glänzte mein Hunger mehr als eine Woche durch Abwesenheit, was zur Folge hatte, dass meine Waage gerade mal noch 77kg anzeigte (ohne Armbanduhr) – ein Gewicht, was ich seit meiner Geburt nicht mehr hatte. 7kg unter Normal sind nicht gut und haben zur Folge, dass mir fürsorgliche Menschen ein Stück Brot oder einen Schokoriegel in die Hand drücken wollen. Der einzige Parameter, den ich zwecks Kontrolle der Fitness beobachtet hatte, war mein Ruhepuls. Es verstößt zwar gegen §1 der Laufordnung („Du sollst den Ausredekatalog nicht benutzen“), aber es ist ein nicht weg zu diskutierender Fakt, dass ich vor der Erkältung einen Ruhepuls von 42(,195) hatte und danach nur noch von 48.

Wie ein Tiger im Käfig tapere ich die folgenden Tage hin und her und links und rechts und hoch und runter – zu Hause, im Büro und überall. Ich weiß nicht so recht, wohin mit meiner Energie. Wie ein Rennpferd, das endlich losgelassen werden will. Vor 4 Wochen lief Wilson Kipsang in Berlin mit 2:03:23h einen neuen Weltrekord. Keinem gönne ich das übrigens mehr als ihm, weil er 2011 in Frankfurt mit 2:03:42h die damalige Bestzeit um lächerliche 4 Sekunden verpasst hat (was daran lag, dass an diesem Tag die Straße nass war). Ich erinnere mich noch gut an den 2011er-Lauf: 4 (in Worten: VIER) lächerliche Sekunden !!?? Wir konnten das Alle nicht glauben. Vermutlich war das die einmalige Chance, dass der WR in Frankfurt landet. Vorbei!

25 Jahre lang „dümpelten“ die Siegerzeiten bei den Männern immer so zwischen 2:13h und 2:10h. 2003 wurde überhaupt zum ersten Mal die 2:10h-Marke geknackt! Aber ab 2008 fing es dann mit aller Heftigkeit an, richtig abzugehen. In nur 6 Jahren wurde der Streckenrekord von „irdischen“ 2:08:29h (2005) um unglaubliche 5 Minuten auf eben diesen Fast-Weltrekord (2011) gedrückt. Auch die Damen schraubten die Bestzeit im neuen Jahrtausend von 2:26:01h (2001) ziemlich heftig auf 2:21:01h (2012) nach unten. Neue Sponsoren, clevere Organisatoren, schnellere Läufer…

Vor 2 Wochen lief Dennis Kimetto in Chicago mit 2:03:45h schon wieder einen Fast-WR. Dort gab es im Nachhinein heftige Diskussionen, weil man ihm seine Split-Times während des Laufs nicht zugerufen hat. Deshalb wusste er angeblich nicht, wie nahe er an der Bestmarke war. Äußerst ärgerlich! Unabhängig davon ist im Moment also absolutes Bestzeit-Fieber, mit dem auch ich mich volle Möhre angesteckt habe.

Es muss etwa Mittwoch oder Donnerstag (also am Donnerwoch) gewesen sein: Bei meiner Routinerunde durch das www nennt die Wettervorhersage für kommenden Sonntag 20°C und Sturm. Mein Puls steigt. Also eine andere Homepage mit Wettervorhersage gesucht. Dort sind es 20°C, Sturm und Gewitter. Mein Puls steigt weiter – der Blutdruck auch. Ich kneife mich. Ich werde aber nicht wach – es tut nur weh. Das darf nicht wahr sein! Aber die Wettervorhersagen sind ja sowieso ungenau – da schaue ich morgen noch mal rein und dann ist wieder Alles gut!

Ist es nicht. Immer noch der gleiche Mist. Auf allen Internetseiten. Auf Allen. Auf wirklich Allen. Meine Laune sinkt. Bestzeit adé? Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit: Ja. Ich beginne, komische Dinge zu tun wie: Stundenlang wortlos aus dem Fenster starren, Blubberblasen im Mineralwasser zählen, mich mit meiner Kaffeetasse streiten, auf den Fingernägeln kauen und so weiter.

Gut – wer sich für einen Marathon Ende Oktober anmeldet, erkauft sich damit zwar eine ziemliche Sicherheit, dass die Temperaturen in Ordnung sind, aber bucht gleichzeitig das Risiko des Herbstwetters mit. Das war mir ja schon bewusst, aber in den vergangenen Jahren wurde man halt ziemlich verwöhnt. 2002 gab es zum letzten Mal einen richtig derben Unwetter-Lauf in Frankfurt.

Der Freitag vergeht, ohne dass ich nennenswert am Leben teilnehme oder anderweitig kommuniziere. Ich vegetiere monoton, humorlos und ohne Kontakt zu meinem Umfeld entlang der Zeitachse.

Wie stark wird der Wind eigentlich? Kann ich wenigstens noch meine 3:23h vom Vorjahr toppen? Die Vorhersage nennt Südwestwind mit einer Stärke von 4bft. Bft ist zwar auch der Name einer Tankstellenkette, aber das meine ich nicht. Bft steht für „Beaufort“. 12bft entspricht zum Beispiel einem starken Orkan. Da hören sich 4bft noch relativ harmlos an, aber das ist eine Vortäuschung falscher Tatsachen. Wenn man das Wort Beaufort in seine französischen Bestandteile zerlegt, kommt die schonungslose Wahrheit zu Tage: „Beau“ bedeutet „schön“ und „fort“ bedeutet „stark“. Aha – der Wind wird also schön stark. Das kann ich bestätigen:

Bis Nachmittags um 16 Uhr war der Wind wirklich ganz schön stark!

Aber der absolute Hohn kommt erst noch: Irgendein mir nicht sonderlich wohl gesonnener Mensch (oder eine Maschine?) hat diesem Tief tatsächlich den Namen Christian gegeben. Geht’s noch?

Dass zusätzlich auch noch Regen und am Nachmittag Gewitter angesagt sind, will ich an dieser Stelle mal geflissentlich übersehen. Aber der Wind ist nun Mal der sportliche Tod des Läufers. Aber was ist nun zu tun, um noch halbwegs positiv aus der Nummer herauszukommen? Mein Kreativzentrum entwickelt Theorien, die ich patentieren lassen sollte:

  • In Island bricht ein Vulkan aus und die Aschewolke vertreibt das Tief.
  • Der Wind, der definitiv aus Südwest kommt, wird erst gegen 12 Uhr stärker und deshalb habe ich ihn ab km 28 auf der 7 km langen Mainzer Landstraße als Rückenwind.

Letztere Variante gefällt mir super und ist gar nicht so weit von der Realität entfernt. Der Wind soll tatsächlich erst gegen Mittag so richtig aufdrehen, so dass ich ihn auf dem Weg nach Höchst als (schwachen) Gegenwind habe und auf dem Rückweg als (starken) Rückenwind. Was für eine endgeile Theorie! Mit einem Schlag schießen literweise Glückshormone durch meinen Körper und Alles ist wieder gut. Bestzeit dürfte kein Thema sein.

Am Samstagmorgen springe ich also hochdynamisch aus dem Bett und betrachte mit Wohlwollen diese wunderbare Stille draußen. Was für eine herbstliche Idylle – die Blätter fallen von den bunten Bäumen, die Sonne scheint und die Obi-Hörnchen sammeln noch schnell die letzten Vorräte für den Winter.

Ziemlich warm ist es – eigentlich deutlich zu warm für Ende Oktober. 20°C fühlen sich irgendwie ziemlich anormal an für diese Jahreszeit. 2012 waren es am Sonntagmorgen beim Start gerade mal 2°C. Deshalb ging dieses Rennen, bei dem ich zum ersten Mal einen Marathon mit Handschuhen gelaufen bin, als Frankfurt-Arctic-Marathon in meine persönliche Vita ein.

Also dann ab in die City und meine Startnummer abholen. Bei uns am Bahnhof verlaufen die Gleise in der Achse West-Ost, so dass ich hier zum ersten Mal den aufkommenden Südwestwind registriere. Pünktlich und genau wie prognostiziert, wird also tatsächlich der Fön angeschaltet. In Mainhattan angekommen, merke ich, dass es in den Hochhäuser-Schluchten ziemlich böig werden wird. Ein kleines Lüftchen potenziert sich hier durch den Kamin-Effekt zu heftigen Böen. Besonders am Messeturm weht es schon ziemlich heftig, was angeblich an den nur in hier auftretenden Fallwinden liegen soll. Frankfurt ist mit seinen 700.000 Einwohnern nicht nur die gefühlte Landeshauptstadt, sondern wettertechnisch im Moment auch das Bermuda-Dreieck Hessens.

Aber Eines ist jedes Jahr gleich: Obwohl ich quasi gleich um die Ecke wohne, komme ich maximal 2 bis 3 Mal pro Jahr in die Frankfurter Innenstadt. Keine Ahnung, warum. Aber einmal pro Jahr, nämlich Ende Oktober, steige ich an der Messe aus der U-Bahn, tapere die Treppe am Bahnhof hoch und halte meine Nase in die Großstadt-Atmosphäre. Das ist jedes Jahr der Moment, wo ich stolz auf die vergangenen 10 bis 12 Wochen harte und quälende Vorbereitung zurückblicke. Ich habe in diesem Moment das Gefühl, Teil eines Events zu sein, für das es sich lohnt, hart zu arbeiten. Oder um es anders zu formulieren: Würde ich an der Treppe oben ankommen, die City fühlen und merken, dass ich nicht fit bin, wäre das eine ganz herbe Enttäuschung.

Egal – ich hole meine Startnummer und tapere zur Pasta-Party in der Festhalle. Dort veranstaltet dieses Jahr HR1 das Nachmittags-Programm. Ich futtere meine gesponserten Nudeln und höre nebenbei zu, wie 5.000m-Olympiasieger Dieter Baumann auf der Bühne den Mythos Marathon erklärt. Dann passiert mir etwas, das mir bis heute Rätsel aufgibt: Als ich meinen Getränke-Gutschein einlösen will, frage ich den Mann hinter dem Tresen dreimal nach einem Radler. Der reagiert aber gar nicht, obwohl niemand links und rechts neben mir steht. Was soll das denn? Einige Theorien zur Erklärung:

  • Mangelnde Präsenz trotz physikalischer Anwesenheit meinerseits
  • Meine Stimme lag an diesem Tag im Ultraschallbereich
  • Die Batterien in seinem Hörgerät waren leer
  • Ich habe mit einer Wachsfigur geredet

Also gehe ich einen Stand weiter und bestelle mein Radler bei seinem Kollegen. „Warum denn ein Radler? Sie wollen doch kein Fahrrad fahren. Sie sind doch Läufer!“ entgegnet mir der lustige Mensch hinter dem Tresen. Ich kann nicht mehr vor Lachen – das ist so traurig, dass es Einem die Tränen in die Nase treibt!

Zurück an meinem Platz höre ich weiter den Erzählungen Baumanns zu und durchwühle meinen Starterbeutel. Ein ganz plötzlich in der Tiefe meines Unterbewusstseins entstandenes Bäuerchen verschafft mir neue Freunde – Reihe 2, Tisch 4. Oben auf der Bühne stehen 2 Hochglanz-Karren des Hauptsponsors und die Cheerleader-Mädels reiben und rubbeln sich zu durchschnittlicher Tanzmusik daran. Wer ist eigentlich besser lackiert? Die Autos oder die Mädels? Ich gehe jetzt.

Baumann hat sich als 5.000m-Spezi ja auch mal am Marathon versucht, musste vor einigen Jahren in Hamburg jedoch kapitulieren. Er gab vor Kurzem in der ARD zu Protokoll, dass ihm diese Distanz einfach zu lang ist. Nach Ende seiner Profi-Zeit ist er dann als Hobbyläufer doch noch mal angetreten und hat hier in Frankfurt eine Zeit von genau 2:30h erzielt – übrigens für einen guten Zweck. Nebenbei ist er vor Kurzem im Rahmen einer Wette die 100km von Biel gegen Martin Grüning (ein ehemaliger 2:13h-Marathonläufer und Redakteur der Runners World) gelaufen – und das bei sintflutartigem Regen sogar unter 10 Stunden.

Dass 3.000m- oder 5.000m-Bahnläufer das Zeug haben, gute Zeiten über 42,2km zu laufen, habe ich in den letzten Jahren auch hier in Frankfurt erleben können: Bei meiner ersten Teilnahme 2009 lief der Österreicher Günter Weidlinger, ein ehemaliger 3.000-Hindernisläufer, mit 2:10h einen Landesrekord. Vor einem Monat erreichte Eliud Kipchoge, der 5.000m-Weltmeister von 2003, beim Berlin-Marathon eine akkurat starke Zeit mit 2:04:05h.

Zu Hause angekommen, wird Alles für den nächsten Morgen vorbereitet: Startnummer befestigen, GPS-Uhr aufladen, Schuhe noch mal knuddeln und so weiter. So gegen 1 Uhr nachts scheppert dann ein Gewitter über uns hinweg, wie es das Rhein-Main-Gebiet Ende Oktober seit 500 Jahren nicht mehr gesehen hat.

Als ich wegen des unfassbaren Donnergrollens noch eine ganze Weile wach liege, gerät meine Startnummer 3723 in den Fokus meiner Aufmerksamkeit: In Frankfurt ist es seit Jahren üblich, dass der Geheimfavorit von den Organisatoren die Startnummer 7 erhält. Warum habe ich die eigentlich nicht bekommen?

Als analytischer Querdenker fällt mir aber auf, dass irgend jemand in meiner Startnummer 3723 die Zahlen 323 um die 7 herumgebastelt hat – also genau meine Bestzeit aus dem vergangenen Jahr. Eine Botschaft!

Irgendwann beruhigt sich das Gewitter wieder, aber diese mysteriöse Story setzt sich in meinen Träumen fort: Pressekonferenz zwei Tage vor dem Lauf. Eingeladen sind Iron-Helmut und ich – in der festen Überzeugung, dass einer von uns beiden die 7 bekommt. Der sportliche Leiter des Frankfurt-Marathons zückt die Startnummer 7. Im Hintergrund läuft „Conquest of Paradise“ von Vangelis. Er geht mit einem Lächeln auf uns zu…

… und an uns vorbei und fuddelt einem uns unbekannten Läufer aus Neu-Kaledonien die 7 an die Brust. Helmut und ich versinken genau wie die Kenianer und Äthiopier in Tränen. Tumulte. Von Boykott und Sitzblockaden ist die Rede. Dann war diese Story irgendwie vorbei. Ohne Happy End. Was für ein krasser Traum!

Rrrrrriiiiiiing. Guten Morgen – es ist 7 Uhr. Sie wollten geweckt werden. Schweißgebadet wache ich auf und renne wie von der Tarantel gestochen zum Fenster. Wie sieht es aus? Eigentlich noch ganz harmlos. Die Äste an den Bäumen wackeln ein wenig, aber nicht wirklich dramatisch! Meine Startnummer ist übrigens immer noch die 3723. Also fix frühstücken und ab zur S-Bahn.

Am Bahnhof erlebe ich ein Déjà-vu: Kaum stehe ich am Bahnsteig, erfasst mich der Wind mit ziemlicher Heftigkeit. Wind ist ja generell gut – das ist eine Band, die für Deutschland in den 80ern zweimal den zweiten Platz beim Eurovision Song Contest belegt hat. Aber heute ist Wind nicht gut.

Iron-Helmut hatte vor dem Start (wieder Mal) verzweifelt versucht, mir klar zu machen, dass ein DNF wegen schlechten Wetters natürlich gar nicht geht. Meine Klugscheißer-Antwort darauf lautete (wieder Mal), dass ein DNF bei schlechtem Wetter moralisch sehr wohl vertretbar ist, wenn man – Klammer auf – die Länge der Mainzer Landstraße in Kilometern mit der Temperatur an der Konstablerwache multipliziert – Klammer zu – anschließend durch das Quadrat der Windstärke in Beaufort teilt und die Wurzel des Rückstands zum führenden Kenianer in Kilometern plus die Startnummer 7 einheitenlos addiert. Erhält man dann einen Wert, der in erster Näherung größer ist als die Anzahl der Zuschauer beim Zieleinlauf in der Festhalle, darf man aufgeben, ohne gegen den Ausredekatalog zu verstoßen.

Ähm – was wollte ich eigentlich sagen? Ach ja:

Wie jedes Jahr wird in der Nacht vor dem Frankfurt-Marathon die Uhr umgestellt – ab heute ist Winterzeit bis Ende März. Da aber heute auch noch der Tag ist, an dem sich Sebastian Vettel beim Großen Preis in Indien seinen 4.Weltmeistertitel sichern kann, wurde der Start von 10 Uhr auf 10:30 Uhr verlegt. Der Hessische Rundfunk als übertragender Sender des Laufes vermutete, dass die Zieleinläufe von Formel 1 und Marathon zeitlich kollidieren. So kam es zu dieser für einen Marathon sehr späten Startzeit. Vettel erledigte seine Mission natürlich akkurat. Der ist übrigens gar nicht weit entfernt von hier im Odenwald aufgewachsen.

Also rein in die S1, ab in Richtung Frankfurter Hauptbahnhof und dann per U-Bahn zur Messe. In den Bahnen sind heute Morgen geschätzte 99% der Leute Teilnehmer am Marathon oder Begleiter. Dementsprechend nervös und ungeduldig geht es zu.

Endlich an der Messe angekommen, geht es dort zu wie in einem Ameisenhaufen (also wie jedes Jahr). Das Besondere des Frankfurt-Marathons ist ja seit Jahren der Zieleinlauf in der Messehalle. Gleichzeitig ist das aber auch der Grund, warum die Teilnehmerzahl auf 16.000 begrenzt werden muss: In der Prime-Time, also im Zeitraum 3:30h bis 4:30h Laufzeit, kommen so viele Läufer ins Ziel, wie die Helfer gleichzeitig durch den Hinterausgang der Halle „herausschieben“ können. Es gibt also kein Verweilen und Aushecheln hinter der Ziellinie. War der Lauf 2012 noch frühzeitig ausgebucht, sind es dieses Jahr „nur“ etwa 15.000 Teilnehmer, denn die Zahl der Nachmeldungen bleibt aufgrund des Wetters natürlich sehr gering.

Die Geschichte des Frankfurt-Marathons begann 1981: Da hieß die Veranstaltung noch Höchst-Marathon und startete auch am Gelände der damaligen Höchst AG. Heute ist die 32. Austragung (nicht die 33.), denn 1986 fiel der Lauf aus finanziellen Gründen aus. Zusätzlich zu den klassischen 42,195km kann man die originale Strecke auch als 4er-Staffel laufen und für Kinder gibt es am Samstag den Mini-Marathon – einen Lauf über 10% der Strecke, also genau 4,219km.

Meine persönliche Geschichte beim Frankfurt-Marathon begann nach einem Jahr Vorbereitung im Oktober 2009. Oft werde ich gefragt, warum ich mir das angetan habe, immer noch antue und antun werde, so lange ich kann. Als ich 2009 tränenüberströmt in der Festhalle ins Ziel einlief, war es ein Befreiungsschlag, der mein Leben verändert hat. Der letzte der 42.195 Schritte beendete eine dunkle Zeit, die mit dem Tod meines Vaters 2004 begann und mich gesundheitlich tief nach unten gezogen hatte. Ich kann mich noch genau erinnern, wie ich damals am 41km-Schild realisierte, dass ich es tatsächlich schaffen würde. Die 7 Minuten von dort bis ins Ziel gehören zu den größten Momenten meines Lebens. Dass ich mit 3:57:14h gerade noch mein Ziel 4 Stunden erreicht hatte, war total nebensächlich – darum ging es gar nicht. Es war der Sieg über mich selbst und der Stolz, wieder aufgestanden zu sein, als ich am Boden lag.

Sport kam erst ab 2010 ins Spiel; ab dann dachte ich auch über Bestzeiten und Ähnliches nach. 2013 soll nun der 5.Start ohne Unterbrechung sein. Hört sich nicht schlecht an, aber es gibt 3 Herren, die seit 1981 bei allen 32 Läufen dabei waren. Das verdient wirklich Anerkennung und wenn man sieht, wie fit diese 65 bis 75jährigen Sportkollegen noch sind, stellt sich die Frage, ob wir als Computer- und Sofageneration in dem Alter auch nur ansatzweise so gesund sein werden. Für mich ist der Frankfurt-Marathon natürlich mein Heimspiel und ich werde versuchen, in ähnliche Teilnahmezahlen zu gelangen. Jedem in meinem Umfeld ist mittlerweile klar, dass der letzte Sonntag im Oktober ein hochheiliger Fixtermin in meinem Kalender ist. Es macht keinen Sinn, mich davon abhalten zu wollen – das endet für alle Beteiligten schlecht.

Einen eingegliederten Halbmarathon, wie bei vielen anderen Veranstaltungen, gibt es Ende Oktober nicht. Der Frankfurter Halbmarathon findet im März statt – mit Start an und mit Ziel in der Commerzbank-Arena. Da war ich auch schon mal dabei – das ist aber schon ein paar Jahre her.

Frankfurt ist ja definitiv die Finanzmetropole Deutschlands inklusive Börse und vielen Großbanken. Diesem Umstand zollt auch der Marathon Tribut, denn es gibt für Führungskräfte tatsächlich eine eigene Manager-Wertung, an der man ab mittlerer Führungsebene teilnehmen kann. Es gehört neben einigen anderen Dingen für Chefs, Pseudo-Chefs & Möchtegern-Chefs in Frankfurt zum guten Ton, mindestens Marathon zu laufen – noch besser ist natürlich der Ironman im Juli (also den Marathon noch so „hinten drauf“ zu laufen).

Ich schlurfe in die Messe, gebe meinen Kleiderbeutel ab und warte am vereinbarten Ort auf Iron-Helmut (so jedenfalls meine Version). Dort geht es eine Stunde vor dem Start zu wie auf einem Basar und man kann die Nervosität mit Händen greifen. In einem Akt völliger Verpeiltheit schaffen wir es Beide, uns zu verpassen. Also ab nach draußen und in den Startblock gestellt – dank meiner angemeldeten Zeit von 3:15h starte ich im allerersten Block, so wie Helmut auch. Irgendwo muss er doch sein! Also warte ich am Einlass zum Startblock wie ein Türsteher auf ihn. Irgendwann muss er doch hier vorbei kommen!!! Aber nix wird’s heute. Völliges Versagen meinerseits. Kleiner Tipp noch: Sagt zu keinem von Adrenalin durchtränkten Marathonläufer kurz vor dem Start am Einlass zum Startblock „Du kommst hier net rein!“ Auerhauerha!

Insgesamt ist der Startvorgang in 3 Wellen unterteilt, d.h. es starten im Abstand von 7 bzw. 8 Minuten jeweils etwa 5.000 Läufer. Dadurch soll das Feld entzerrt und unnötiges Gedränge vermieden werden. Durch die Nettozeitmessung per Chip ist das natürlich heutzutage kein Problem mehr. Bis vor 2 Jahren starteten alle Sportler im Prinzip gleichzeitig – da dauerte es 17 Minuten, bis der Letzte die Startlinie überquert hatte.

Verzweifelt suche ich, wie viele Andere auch, den Zugläufer für die Zielzeit 3:15h. In dessen Windschatten will ich mich hängen und mich zu einer Bestzeit ziehen lassen. Aber Niemand findet den 3:15h-Onkel. Hat er gekniffen? Den 3:29er-Zugläufer kann jeder sehen – er steht mit einem riesigen Ballon an der Schulter nur etwa 20m hinter uns. Wie mir im Nachhinein berichtet wurde, ist meine Zielperson tatsächlich gestartet, jedoch hing der Ballon aufgrund des Windes in Hüfthöhe, so dass ihn Kreaturen wie ich nicht finden konnten.

Also stehe ich orientierungslos am Ende des ersten Startblocks in der Nähe des Frankfurter Hammering Man und schaue grantig auf meine Uhr. Wie immer in Frankfurt, ist es äußerst mühselig, ein GPS-Signal zu finden. Deshalb recken gefühlte 500.000 Menschen die Arme in Richtung Himmel und hoffen auf Erlösung. Es geht so langsam los – vorne begrüßt der Sprecher die Topstars: „…wir begrüßen aus Kenia… de Kall-Heinz, de Pedär, de Ritschie, de was-weiß-ich-denn-wie-die-heißen?“ Warum werde ich eigentlich nicht vorgestellt?

Los geht’s

Paff! Vorne stürmen die Afrikaner weg. Danach kommt erst mal nix. Dann der Rest inklusive Iron-Helmut und mir. Ich fahre mein Betriebssystem hoch und nach 3 Minuten überquere ich die Startlinie. Was ich gar nicht witzig finde, sind die vielen Wärmefolien, die hier herumliegen. Vor mir hat ein Kollege echte Probleme, sich nicht komplett zu einem Gordischen Knoten zu verheddern. Ein lautes „Sch..“, gefolgt von einem „F…“ (oder war es umgekehrt?) beendet diese Episode.

Da ich den Zugläufer für 3:15h auch jetzt noch nicht gefunden habe, muss ich die Strecke quasi ohne Leitwolf bestreiten. Der erste Kilometer ist immer ein wenig diffizil – man darf sich nicht von der Euphorie zu einem Tempo hinreißen lassen, wofür man später büßen muss. Andererseits darf man den Wettkampf auch nicht verpennen. Es ist eine Kunst, beim ersten Kilometer sofort auf Kurs zu sein.

Kraft meines Amtes als Hobby-Meteorologe merke ich, dass das wirklich schwer werden wird mit meiner erträumten Zielzeit (na ja – ich ahnte es auch gestern schon). Mein aktueller Plan besteht darin, irgendwie halbwegs unbeschadet bis Höchst zu kommen und ab dort mit Rückenwind zurück in die City zu fliegen. Mal sehen! Von der ursprünglich notwendigen Pace von 4:37 min/km weiche ich also ein wenig ab und finde mich wieder bei etwa 4:45 min/km. Ich versuche, in der Straßenmitte zu laufen und mich dabei in Gruppen zu verstecken.

Der Wind ist nicht einfach, aber zu dieser Zeit auch nicht wirklich dramatisch. Die erste Zeitmessung nach 5km überlaufe ich nach 23:56 min. Das ist gar nicht so übel, jedoch 62 Sekunden langsamer als 2012 und vor Allem 2:30 Minuten langsamer als Helmut.

5 KM
2013 2012
0:23:56h 0:22:54h

Ein wesentlicher Unterschied zwischen beiden Teilnahmen ist die Tatsache, dass ich 3 Wochen vor dem 2012er-Lauf die 100km in Rodenbach absolviert hatte. Und das ist im Nachhinein ein echtes Problem gewesen, denn man hat nach 100km zwar Kraft wie Hulk persönlich, aber das Gefühl für gleichmäßiges Tempo ist genauso abwesend wie das Feeling für die tatsächliche Leistungsfähigkeit. O.k. – ich habe 2012 ab km 35 auch ein wenig dafür gebüßt. Deshalb sind 23:56 min nicht so schlecht – jedoch scheinen 3:15h heute wirklich nicht machbar.

Bis km 13 windet sich die Strecke durch die Hochhausschluchten – von einer Bank zur anderen. Ständige Richtungswechsel. Vorbei am Senckenberg-Museum, am Palmengarten und insgesamt 4 mal an der Alten Oper. Dort hat HR1 ein so genanntes Stimmungsnest mit Großbildleinwand für die Zuschauer aufgebaut. Die beste der vielen Musikgruppen an der Strecke steht aber in der Kaiserstraße: Es ist eine enorm große internationale Sambagruppe namens Bloco X. Die spielen seit Jahren so monströs vielstimmig und laut, dass es einen aus den Socken haut. Ich muss sagen, dass der musikalische Support wirklich gewaltig ist – entlang der Strecke spielen insgesamt 40 Bands aller Art, von Blasmusik bis Rock’n’Roll.

Jetzt kommen wir aber zum witzigen Teil dieses Streckenabschnitts. Ich bemerke, dass meine GPS-Uhr völligen Bullshit anzeigt. Unter Anderem Kilometer-Zeiten von 2 Minuten. Es ist wie meistens im Frankfurter Bankenviertel: Das GPS wird durch Reflexionen bzw. Fehlechos an den Hochhäusern komplett verwirrt. Das nachfolgende Bild zeigt, was für einen Mist meine Uhr aufgezeichnet hat:

Frankfurt – die Stadt mit dem Hochgebirge

Nicht nur, dass das GPS Berge bis 340m Höhe ermittelt (die Strecke ist fast komplett eben) – der Knaller ist meine Höchstgeschwindigkeit von 136,8km/h! Herzlichen Glückwunsch zum Eintrag ins Buch der Rekorde. Ich glaube, mein Lappen ist für die nächsten 150 Jahre weg. Wer heißt hier eigentlich Bolt? Damit meine ich nicht diesen Hund!

Diese Messungen, die man mit viel Toleranz und Augenzwinkern in erster Näherung ganz grob für eventuell ungefähr rein hypothetisch möglich einstufen könnte, wenn man wollte und 3 Promille im Blut hat, führten dazu, dass die Gesamtstrecke mit 44,6km eingeschätzt wurde. Moment – kriege ich für diese 2,4 zusätzlichen Kilometer vielleicht eine Zeitgutschrift? Nein, gibt es nicht.

2011 hat meine Uhr 43,4km geschätzt und im vergangenen Jahr waren es nahezu korrekte 42,6km. Weil im Display in diesem Jahr aber ein derartiger Mist angezeigt wird, schalte ich die Distanzanzeige komplett ab. Yeah! Das ist die Reinkarnation der S T O P P U H R – so wie früher in der Schule bei den Bundesjugendspielen. In meiner Nähe höre ich oft Aussagen der Qualität „Meine Uhr spinnt gerade“.

Vor lauter Beschwerden über meine Uhr verpasse ich fast die Zeitnahme nach 10km. Diese Messung ist mitten in einer leichten Steigung, die zur Verpflegungsstelle führt. Nicht ganz angenehm zu laufen.

10 KM
2013 2012
0:47:23h 0:45:42h

Der Trend hat sich also fortgesetzt – ich laufe etwa 10 Sekunden pro km langsamer im Vergleich zu 2012. Aber das ist einkalkuliert; ich gehe hier auf keinen Fall an meine Grenzen. Meine Hoffnungen ruhen auf dem Rückenwind auf der Mainzer Landstraße… Helmut ist hier in 42:25 Minuten durch – also 5 Minuten vor mir und sogar 4 Sekunden schneller als meine PB über 10km von vor einer Woche. Also mal wieder keine Chance für mich…

Nach der Verpflegung geht es eine Zeit lang herrlich den Berg hinunter, vorbei an der Konstablerwache. Hier, direkt an der Bahnstation, stehen sehr viele Zuschauer. Außerdem erinnert mich die Konstablerwache an einen Techno-Track von Smash aus dem Jahr 1993: „Nächste Station: Konstablerwache“. Und wo wir gerade dabei sind, fällt mir gerade auch „We are from Frankfurt“ und „King of FFM“ von PCP ein. Ganz und gar nix für Feingeister, aber so waren die Zeiten halt. Und überhaupt: Keine Zeit hat mich musikalisch mehr geprägt als der so genannte Sound of Frankfurt – Snap, Dance 2 Trance, Talla, PCP, Sven Väth, alles musikalische Großmeister aus Mainhattan! Culture Beat, LDC und Klangwerk zähle ich mal dazu – Thorsten Fenslau war aus der Darmstädter Ecke.

Genug gelabert – da vorne kommt die Alte Brücke und es geht von der nördlichen auf die südliche Mainseite. Der Frankfurter nennt dies auch von „Hibb de Bach“ nach „Dribb de Bach“.

Wir betreten nun den Stadtteil Bembelhausen, äh ich meine Sachsenhausen. Das allgemein anerkannte Nationalgetränk für die nächsten 4 km ist der Ebbelwoi (eigentlich für ganz Frankfurt). Redet man hier übrigens vom „Gerippten“, meint der Frankfurter wahlweise ein Ebbelwoi-Glas oder im größeren Maßstab den Turm am Westhafen. Im Normalfall hat der Sachsenhäuser einen Aufkleber vom Typ „Bembel with care“ oder „Süßgespritzter – nein danke!“ am Auto. Wer sich intensiver mit dem Thema „Exotherme Verdauung“ auseinandersetzen will, sollte sich über eine hiesige kulinarische Spezialität, den „Handkäs’ mit Musik“, schlau machen.

Aber heute keine Zeit dafür. Leider geht es jetzt wie prognostiziert direkt in den Gegenwind. Nicht dramatisch, aber auf Dauer echt nervig. Wie ich erst später erfahre, war die Verletzung bei Helmut dann doch zu heftig und er ist nach 12km richtigerweise ausgestiegen. Passiert Jedem irgendwann einmal. Aber ab jetzt muss ich wohl den Kampf gegen die Wetter-Kapriolen alleine weiter führen. Da vorne liegt übrigens die nächste Zeitnahmematte:

15 KM
2013 2012
1:11:10h 1:08:37h

Also die eine Sekunde hätte ich ja eigentlich noch warten können… Es beginnt nun eigentlich der Streckenteil, wo es richtig rollt. Kaum Richtungswechsel und fast komplett flach. Eigentlich…

Es rollt auch heute ganz gut, aber ich muss ziemlich viel Kraft aufwenden, um im Spiel zu bleiben. Wie gesagt – ich baue auf den Rückenwind auf der Mainzer Landstraße….

Pling. Irgendwas hatte ja noch gefehlt. Genau – der Regen. Zum Glück nur etwa 30 Minuten lang. Beißen! Draaaagoooo! Ich verstecke mich in einer Gruppe, so gut es geht. Nicht witzig – das.

In Niederrad und Goldstein ist die Strecke ziemlich ungeschützt – bestes Drachenwetter. An der Halbmarathon-Marke ist jedes Jahr ein Anwohner-Fest mit ordentlicher Musik – das gibt ein wenig Auftrieb. Ich versuche, die 21,1km noch unter der psychologisch nicht unwichtigen Marke von 1:40h zu erreichen. Gelingt mir nicht. Ein Zwischenspurt wegen 19 Sekunden ist auch nicht wirklich clever.

21,1 KM
2013 2012
1:40:18h 1:36:48h

Knapp 1:40h ist o.k. – das lässt noch einige Möglichkeiten offen. Nur noch 6km bis Höchst. Dann kommt der Rückenwind. Hoffe ich.

2012 habe ich bei 21,1km kurz überlegt, ob ich noch ganz dicht bin, denn schneller als 1:35h bin ich auch in einem reinen Halbmarathon noch nie gelaufen. Teufel noch mal – Alles ist ziemlich nass und ich verliere die an der Verpflegung gegrabschte Banane im Laufen. Zum Glück habe ich Gels dabei.

Nach 23,5km beginnt ein leichter Anstieg in Richtung der Schwanheimer Brücke, über die man wieder auf die nördliche Mainseite gelangt – also zurück nach „Hibb de Bach“. Für Viele ist diese Brücke der Knackpunkt der ganzen Strecke, den im Normalfall hat es auf den vergangenen 10km ganz gut „gerollt“. Jetzt geht es mit einem langgezogenen Bogen ein Stockwerk nach oben. Das ist keine wirklich starke Steigung, jedoch hat man jedes Mal das Gefühl, vor die Brücke zu „prallen“, weil sie sehr mächtig wirkt und man bis eben ganz gut in Schwung war. Wer dieses Bauwerk nicht kennt und / oder sowieso schon erschöpft ist, kriegt spätestens hier den Stecker gezogen. Leider sind es noch fast 18km bis ins Ziel.

Glücklicherweise kenne ich die Schwanheimer Brücke mittlerweile. Sogar persönlich. Wir sind seit 2011 per Du. Oben angekommen merke ich zum ersten Mal so richtig fetten Rückenwind aus Süden. Außerdem spielt hier das Musikhaus Taunus geilen Rock’n’Roll – da freue ich mich jedes Jahr drauf, denn das sind ziemlich coole Socken. Meine Laune steigert sich fast ins Unermessliche und ich fege mit ordentlich Gas über die Brücke – eine echte Meise drosselt man eben nicht. Auf der anderen Seite geht es herrlich bergab und hin zur 25km-Zeitnahmematte:

25 KM
2013 2012
1:58:58h 1:54:58h

Es sind also ganz genau 4 Minuten Rückstand im Vergleich zum vergangenen Jahr. Das ist angesichts der Bedingungen voll akzeptabel. Es bleiben also noch 17,2km, um diese Zeit aufzuholen – das sind 14 Sekunden pro Kilometer. Angesichts des auf mich wartenden Rückenwinds und der Tatsache, dass ich 2012 auf dem Rückweg sogar Gegenwind hatte, halte ich das in diesem Moment für absolut machbar.

Also ab nach Höchst, der ursprünglichen Wiege dieses City-Marathons. Es folgt bei km 27 eine leichte Steigung und oben angekommen, passiert man endlich den Wendepunkt. Dort liegt eine zusätzliche Kontrollmatte, die nicht der Zwischenzeitnahme dient, sondern nur überwacht, dass alle Teilnehmer tatsächlich den am weitesten von Start und Ziel entfernten Punkt passieren. Für Möchtegern-Bescheißer würde sich nämlich bei km 27 recht einfach die Gelegenheit bieten, auf die andere Straßenseite zu wechseln und somit 1km abzukürzen. Höchst ist eigentlich eine ziemlich unterschätzte Stadt, bzw. heute Stadtteil. Man verbindet Höchst eher mit Industrie und dabei natürlich der ehemaligen Höchst AG. Es gibt dort aber teilweise wirklich schmucke alte Häuser und eine sehr schöne Ufergegend am Main.

Jetzt aber geht es zurück in die City. Rückenwind – ich komme! Ich schalte einen Gang hoch und dann geht’s ab. Äh – Rückenwind? Also ich merke noch nix. Wahrscheinlich muss ich mich erst noch bis km 29 nach Nied durchkämpfen (wieso fällt mir eigentlich gerade das Spiel „Need for Speed“ ein?) – dort geht es in eine 90°-Linkskurve. Dann muss der Rückenwind aber kommen.

In Nied ist dann auch der letzte Staffelwechsel – dies bedeutet auch, dass der Schlussläufer (m/w) einer Staffel mit knapp 14km den längsten Part hat. Das ist auch nur gerecht so, denn er hat auch das Privileg, den Zieleinlauf in der Festhalle genießen zu dürfen, während sich seine Kollegen die nächstbeste S-Bahn oder U-Bahn suchen müssen.

Da vorne steht das Schild für 30km – aber von dem versprochenen Rückenwind merke ich nix.

30 KM
2013 2012
2:23:45h 2:19:21h

Also das sind jetzt schon über 4 Minuten Rückstand – ich sehe die Felle langsam wegschwimmen. Aber was ist das? Am rechten Streckenrand bemerke ich eine geschätzt 41jährige Dame und sie sieht aus, als hieße sie Irina Mikitenko. Ich sehe, sie komische Dinge tun, nämlich entgegengesetzt zu uns laufen. Diejenige Irina Mikitenko, die vor einem Monat beim Berlin-Marathon mit 2:24:54h einen Weltrekord in der Altersklasse W40 aufgestellt hat und mit 2:19:19h den Deutschen Rekord für vermutlich die nächsten 10.000 Jahre hält. Wie ich später auf HR3 sehen konnte, war sie das tatsächlich, denn sie lief in einer Staffel mit. Eine interessante Sportlerin übrigens, denn ihr Rezept besteht darin, am Start „einzuschlafen“ und erst bei 35km wieder wach zu werden (sagte sie jedenfalls in der ARD). Kann man einen Marathon wirklich als Schlafwandler laufen?

Zurück zu meinen Problemen: Es sind jetzt genau 32km vorbei und anstatt Rückenwind wird meine geschundene Seele von ständig wechselnden Böen gequält. Von vorne, von hinten, von rechts, von links, von wegen, von mir aus macht doch alle, was ihr wollt. Ich habe die Schnauze voll und mache jetzt nur noch 10km lang Dienst nach Vorschrift. Der versprochene Rückenwind war wohl eher ein Versprecher.

Oder heißt Südwest-Wind etwa, dass der Wind nur im Südwesten weht? Ich jedenfalls bin mental für den heutigen Tag im Eimer und schleppe mich zurück in Richtung City. Somit ist der 32te Kilometer auch der letzte, der unter 5 Minuten abgeht.

Was selbst dem ungeübten Auge auffällt, sind die relativ vielen Sportler, die nur noch gehen, komplett stehen bleiben oder sich gar übergeben. Genau deshalb nennt ein Mancher die Mainzer Landstraße Straße auch den „Boulevard of broken Dreams“ – „Der Boulevard der gebrochenen Träume“. Insgesamt kein sonderlich harmonisches Bild hier.

Bei km 35 ist die nächste Zeitnahme. Das interessiert aber jetzt keine Sau mehr – deshalb notiere ich die Durchgangszeit auch nicht. Gleiches gilt für km 40. Als ich endlich glaube, Alles würde gut, muss ich erkennen, dass bereits Alles gut ist. Es wird Alles nur noch schlechter. Die Theorie sagt übrigens, dass spätestens jetzt mein Körper auf Fettverbrennung umgestellt hat. Ich merke nix – das Einzige, was hier brennt ist mein wund gescheuerter kleiner Zeh. Ja schon gut – einen Weicheipunkt an mich.

Ich werde aber ab jetzt kein einziges Mal mehr die Vokabel „Wind“ benutzen – ich verwende ab jetzt nur noch Synonyme wie Sturm, Tornado, Hurrikan oder Blizzard. Es beginnt die zweite und somit finale Runde im Bankenviertel und ich will behaupten, dass das die qualvollsten 7km sind, die ich jemals absolviert habe.

Irgendwo bei km 38 knallt und scheppert es laut. Am rechen Straßenrand zerlegt es gerade die Außeneinrichtung eines Cafés oder Restaurants. Stühle fliegen auf die Straße, Glas zerbricht. Der Sturm peitscht so stark, dass wir Alle zweimal komplett stehen bleiben müssen. Um nicht von irgendwelchem Zeug getroffen zu werden, laufen fast Alle in der Straßenmitte. Es ist Alles wie in „Der Sturm“ von Roland Emmerich. Die Polizei hatte völlig Recht, als sie heute das Aufstellen von Werbe-Torbögen verboten hat. Das wäre viel zu gefährlich geworden.

Ich habe übrigens was Interessantes auf der Homepage von Herbert Steffny gelesen: Mitte der 80er-Jahre war die durchschnittliche Zeit genau 3:23h (also genau meine Bestzeit). In den letzten Jahren waren es hier in Frankfurt etwa 3:55h. Er meint, Marathons seien viel „volksläufiger“ geworden. Ja – da ist definitiv was dran!

Die Zeit spielt aber schon lange keine Rolle mehr – alle wollen nur noch unversehrt ins Ziel kommen. Ein Hoffnungsschimmer dann in der Kaiserstraße: Bloco X trommelt immer noch. Die sind echt unverwüstlich. Hut ab!

Endlich sind 40km rum – die letzte Zeitnahmematte liegt direkt in der Fressgass. An der Alten Oper werden die Durchhalteparolen dieses Mal deutlich lauter gebrüllt als letztes Jahr – die Zuschauer erkennen alle, dass wir heute leiden wie die Hunde. Nur noch eine ganz lange Gerade in Richtung Messe und dann ist es geschafft. Da fällt mir was Lustiges ein: Ich singe „Durch den Monsun“ von Tokio Hotel – bei dem Getöse hört das ja eh keiner.

Da vorne ist endlich der Hammering Man und unter ihm steht das Schild für 42km. Dahinter noch ein Linksabzweig zur Festhalle und ab geht’s ins Ziel. Meine geschundene Seele nimmt wohlwollend zur Kenntnis, dass vor der Halle der Applaus und die Anerkennung besonders groß sind. Wer hier angekommen ist, hat es ja im Prinzip schon geschafft. Das Schöne ist, dass man nicht mehr auf einer breiten Straße läuft, sondern durch eine ganz enge Gasse, wo die Zuschauer ganz dicht an den Läufern dran sind. Das sind Emotionen pur – obwohl der Lauf noch nicht beendet ist, wird hier schon heftig gefeiert. Die Zuschauer stehen hier besonders zahlreich, weil sie zum Einen diese Emotionen erleben und zum Anderen die geschundenen Läufergesichter sehen wollen.

Also ab in die Disco, äh Festhalle. Dort ist wie immer laute Musik am dröhnen (verdammt – ich kann mich nicht erinnern, was bei mir lief). Und dunkel ist es jedes Mal – als Läufer kann man auf der Tribüne Niemanden erkennen. Nur noch einen Schritt….

Geschafft! 42,195km durch den Monsun in 3:31:17h. Freundliche Helfer komplementieren mich in Richtung Hinterausgang der Halle. Im Foyer setze ich mich in eine unbeobachtete Ecke und schmolle erst mal ein wenig. Über den Lautsprecher läuft ein Endlosband „Herzlichen Glückwunsch – Sie sind Sieger und bla-blub und laber-rabarber, römsdipöms…“. Das geht mir relativ schnell auf den Zeiger und ich flüchte in Zeitlupe in Richtung Ausgang. Jetzt kommt noch eine richtig große Hürde, nämlich eine Treppe mit 4 oder 5 Stufen, die im normalen Leben völlig harmlos ist. In diesem Zustand ist es jedoch ein Mount Everest und Viele gehen rückwärts die Treppe runter.

Draußen jammere ich noch ein wenig die gute Frau voll, die mir die Medaille um den Hals hängt. Kurz nach einem Marathon sinkt die Körpertemperatur normalerweise ganz schnell auf 32°C – das scheint nun wieder der Fall, denn ich friere wie ein Kater. Deshalb ganz schnell zu meinem Kleiderbeutel und umziehen. Das gelingt mir ganz gut und mit letzter Kraft kämpfe ich mich in die Messehalle, um meine Zeit auf die Medaille gravieren zu lassen. Die 7€ dafür investiere ich seit 2009 jedes Jahr.

Was bleibt, ist ein wenig Statistik: In diesem Jahr erreichen 11.009 von 14.964 Läufern das Ziel (m = 8.871 / w = 2.138), also 73,5%. Das ist natürlich eine niedrige Quote, aber kein wirklicher Weltuntergang für den Veranstalter. Gewonnen haben die Favoriten Vincent Kipruto aus Kenia in 2:06:15h und ebenfalls aus Kenia Caroline Kilel in 2:22:34h. Beides sind für diese Umstände bemerkenswerte Zeiten. Besonders spannend war der Zieleinlauf bei den Männern, da sich Kipruto erst im Sprint gegen Mark Kiptoo durchsetzen konnte, einem 37-jährigen Kenianer, der in Frankfurt seinen ersten (!) Marathon absolviert hat.

Der gemeine Hesse freut sich besonders über die Performance der Hahner-Zwillinge Anna und Lisa, die sich mit Zeiten von 2:27:55h und 2:30:17h locker für die Leichtathletik-EM 2014 in Zürich qualifizieren konnten (und das bei gefühlter Windstärke 17)!

Ich will jetzt nach Hause, denn meine Badewanne wartet auf mich. Das Stehen in der U-Bahn macht dabei besonders viel „Spaß“. Zum Glück muss ich am Hauptbahnhof nicht lange auf die S-Bahn warten. Als ich gerade (völlig am Arsch) die vorbei rasenden Bäume zähle, kommt eine Durchsage, die mir den Rest gibt: „Liebe Fahrgäste (….) aufgrund einer Gleissperrung in Hattersheim endet dieser Zug hier!“ Ich kann nicht mehr!! Wollt Ihr mich verarschen!!!????

Und jetzt? Genau wie die 10.000 anderen Fahrgäste verlasse ich hier in Höchst die Bahn und blicke ratlos in die Gegend. Es sind zu Fuß noch 7km bis nach Hause. Das schaffe ich nicht mehr. Also sprinte ich wie ein Irrer in Richtung Taxistand (Ich habe es gestoppt: 100m in 9,52sec). Mit einem finalen Hechtsprung sichere ich mir das eine Taxi, das dort wartet.

Zu Hause angekommen, merke ich, was man unter Windstille versteht. Herrlich! Aber bevor ich in die Badewanne hüpfe, muss irgendwie noch mal Alles raus: Ich zünde meine Stereo-Anlage und höre erst Mal was richtig Trauriges. Spontan entscheide ich mich für den 1988er-Track der Münchner Freiheit „Bis wir uns wiedersehn“, denn die Lyrics erwähnen was von „…das große Ziel war viel zu weit…“ und „…versuchen wir es wieder, so lang man Träume noch leben kann…“. Heeeeeeeeeuuuul!

Als meine Melancholie langsam wieder gegen 0 konvergiert, lege ich was von Freund Marilyn Manson auf. Nachdem ich übrigens merke, dass 180 Dezibel in einem Mietshaus am Sonntagnachmittag etwas viel sind, nutze ich lieber meine Kopfhörer.

Nach 30 Minuten lässt mein temporärer Tinnitus nach und ich beschließe, mich als Sieger der Herzen zu fühlen und schreite zur hausinternen Siegerehrung – in diesem Jahr eindeutig die Verleihung einer Tapferkeitsmedaille:

Sieger der Herzen

Ich liege in der schönen heißen Badewanne und bin heilfroh, dass diese Tortur vorbei ist. Aber nur 3 Sekunden später fällt mir das Zitat des berühmtesten Frankfurter Philosophen aller Zeiten ein, dem Großen Stepi:

Lebbe geht weider!

Hinweis: Dieser Text enthält genau 42 Mal die Buchstabenfolge „Wind“ (die Anzahl ist übrigens Zufall). Ich entschuldige mich dafür aufrichtig und verleihe mir dafür selbst 10 Weicheipunkte.

Frage: Was ist dieses Jahr eigentlich mit mir los? Normalerweise wiege ich 84kg und gehe nach ordentlicher Vorbereitung mit 80kg in Frankfurt an den Start. In diesem Jahr haben das deutlich härtere Training sowie die Scheiß-Erkältung dazu geführt, dass es vor dem Marathon nur noch 77kg waren.

Nach dem Wettkampf futtere ich jedes Jahr dann immer wie Addi Positas himself und nehme sehr schnell wieder zu. Nur – in diesem Jahr bisher trotz Currywurst, Carne con Chili, Chips, usw. bisher exakt kein einziges Gramm (Stand: 12.11.13 – abends). Nanu? Habe ich mit meinem Training etwa Fettreserven angezapft, die eigentlich für die nächste Eiszeit vorgesehen waren? Im Profiboxen hätte ich jetzt den Sprung vom Cruisergewicht ins Halbschwergewicht geschafft.

Nachtrag vom 23.02.14: Weder das Weihnachtsfressen, noch die Silvesterparty, noch ein Aufpäppel-Urlaub in Oberhof haben die 3 Kilo rekonstruieren können. Sie sind weg, einfach weg, verschwunden im unendlichen Kosmos des Seins. Seitdem begegnet mir mein Umfeld mit Fürsorge, manchmal sogar Mitleid – wildfremde Menschen bieten mir ihr Pausenbrot an und die Bedienungen an der Metzgertheke ein Scheibchen Wurst. So wie früher.

Nachtrag vom 02.05.15: Von wegen „They never come back“! Die verloren geglaubten Kilos sind wieder da. Ich bin in letzter Zeit zu oft an der Streuobstwiese vorbei an die Currywurst-Bude gegangen.

Abkürzungen: Abkürzungen sind leider beim Marathon nicht erlaubt. Aber eines noch: PCP steht in diesem Kontext für das Frankfurter Musiklabel „Planet Core Productions“.

Christian Meise

Christian Meise

Einen Kommentar hinterlassen